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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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deren wichtigste spirituelle Stütze. Aus diesem Geist erklärt sich, um den Historiker Michael Maurer zu zitieren, «eine Besonderheit Irlands im 20. Jahrhundert …, durch die es sich weitgehend von der europäisch-amerikanischen Moderne isolierte: restriktive Zensurpraxis und Pressepolitik. Die Liste der in Irland verbotenen Schriften ergibt einen Katalog der Moderne; Sexualität und Geburtenkontrolle waren verpönte Themen, aber auch politisch und wissenschaftlich Anstößiges wurde der irischen Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg vorenthalten.» Es war kein Zufall, daß einer der größten irischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Samuel Beckett, den älteren Beispielen von George Bernard Shaw und James Joyce folgend, seine Heimat 1937, dem Jahr der neuen Verfassung, verließ und seine Werke fortan im Ausland, meist in Paris, verfaßte.
    Das Gegenstück zur katholischen Variante einer rückwärts gewandten Geisteshaltung im Süden Irlands war der protestantische Fanatismus der Unionisten und ihres paramilitärischen Arms, des Oranierordens, im Norden der Insel. Obwohl mehr als ein Drittel der Bevölkerung Ulsters katholisch war, konnte von einer Gleichberechtigung der Konfessionen keine Rede sein. Das Parlament in Belfast wurde (entgegen dem Willen Londons und den Bestimmungen des britisch-irischen Vertrages von 1921) nicht nach dem Verhältniswahlrecht, sondern nach einem Mehrheitswahlrecht gewählt, das einseitig die Protestanten begünstigte. Denselben Effekt hatte die manipulierte Zuschneidung der Wahlkreise, das berüchtigte «gerrymandering». Im öffentlichen Dienst hatten Katholiken ungleich schlechtere Chancen als Protestanten. In den Jahren vor 1925 tat ein Wahlboykott der Katholiken ein übriges, um das Übergewicht der protestantischen Mehrheit zu verstärken.
    Die Regierungsübernahme durch die Fianna Fáil im Süden bewirkte eine weitere Zuspitzung des konfessionellen Gegensatzes im Norden. Ein Ausnahmegesetz, das der Polizei nach der Teilung Irlands weitreichende, aber zeitlich befristete Sondervollmachten gewährt hatte, wurde 1933 auf unbestimmte Zeit verlängert. Die Wirtschaft Ulsters, eines frühzeitig industrialisierten Gebietes, befand sich seit langem im Niedergang; die Slums von Belfast suchten in Europa ihresgleichen; ohne die Zuschüsse aus London hätte die teilautonome Provinz nicht überleben können. Erst die Rüstung im Zeichen des Zweiten Weltkrieges verhalf dem Norden Irlands zu einer gewissen wirtschaftlichen Erholung, so daß sein Lebensstandard 1950 schließlich um 75 Prozent über dem des Südens lag.
    Gegenüber dem übrigen Nordwesteuropa wirkten beide Teile Irlands in der Zwischenkriegszeit wirtschaftlich, sozial und mental zurückgeblieben. Im konfessionell gespaltenen Ulster überlagerte der Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken alle anderen Gegensätze, auch den zwischen Kapital und Arbeit. In dem zu über neun Zehntel katholischen Süden wurde hingegen 1937 demonstrativ ein Protestant, der Gründer der Gaelic League, Douglas Hyde, gewissermaßen als Gegengewicht zu den «ultramontanen» Elementen der neuen Verfassung, zum ersten Präsidenten gewählt.
    Nicht der Gegensatz zwischen den Konfessionen, sondern der Streit um die richtige Art der nationalen Selbstbehauptung drängte im unabhängig gewordenen Irland den modernen Klassenkonflikt in den Hintergrund. Vermutlich hätte eine radikale klassenkämpferische Linke auch in Irland einer faschistischen Rechten einen Zulauf verängstigter Wähler aus den Mittelschichten gebracht. Es gab jedoch noch einen anderen Grund, weshalb der irische Freistaat am parlamentarischen System festhielt: die Prägung durch die politische Kultur Großbritanniens. Dieser Einfluß war so stark, daß er den langen und schließlich erfolgreichen Kampf um die Unabhängigkeit und die Teilung der Insel in einen überwiegend katholischen Süden und einen überwiegend protestantischen Norden überdauerte.
    Anders als Irland gehörte das Königreich der Niederlande zu den wenigen Ländern Europas, deren Entwicklung von ungebrochener Kontinuität zwischen Vor- und Nachkriegszeit geprägt war. Im Ersten Weltkrieg hatten die Niederlande, im Unterschied zum südlichenNachbarland Belgien, ihre Neutralität bewahren können. Das innenpolitisch wichtigste Kriegsjahr war 1917: Damals wurde das allgemeine gleiche Wahlrecht für Männer eingeführt. 1922, fünf Jahre später, kamen auch Frauen in den Genuß dieses Rechts. Gleichzeitig wurde

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