Geschichte des Westens
Sprache auf Kosten der französischen, forderte, wieder die Oberhand. Sie tat es mit einigem Erfolg: 1930 wurde die Universität Gent in eine rein flämische Hochschule verwandelt. (Eine entsprechende Anordnung hatte die deutsche Besatzungsmacht bereits im März 1916 erlassen.) Zwischen 1932 und 1938 ergingen Gesetze über den öffentlichen Sprachgebrauch in Flandern, Wallonien und Brüssel, die den Wünschen der moderaten «Aktivisten» entgegenkamen.
Dem radikalen Flügel der flämischen Bewegung um den Vlaamsch Nationaal Verbond, der bei den Wahlen von 1935 die Zahl seiner Mandate von 8 auf 16 steigern konnte, war das nicht genug: Er machtesich für die weitgehende Autonomie Flanderns stark. Eine andere, sehr viel extremere Linie verfocht der 1931 von Joris Van Severen, einem früheren Abgeordneten der flämischen Frontistenpartei, gegründete Verbond van Dietsche Nationaalsolidaristen. Er propagierte einen großniederländischen Nationalstaat, der auch Französisch-Flandern einschließen und mit allen niederländischen und belgischen Kolonien ein Reich von mehr als 50 Millionen Einwohnern bilden sollte. (Später kamen auch, unter dem Banner der «großburgundischen» Idee, Wallonien und Luxemburg hinzu.) Der rechtsradikale Verband unterhielt eine Miliz, die Dinaso (ein Kürzel für «Dietsche Nationaalsolidaristen»). Ihre Mitglieder trugen dunkelgrüne Uniformen und grüßten mit dem erhobenen rechten Arm und dem Ruf «Heil t’Dinaso». Über einige tausend Mitglieder in Westflandern kam diese Spielart des belgischen Faschismus aber nicht hinaus.
Gefährlicher wurde dem belgischen Staat die aus der Katholischen Aktion hervorgegangene Bewegung der Rexisten, benannt nach dem rechtskatholischen Verlagshaus Rex in Löwen. Der rhetorisch hochbegabte Führer der Rexisten, Léon Dégrelle, ein Anhänger von Charles Maurras und seiner «Action française», griff seit 1935 die Politiker aller Parteien und das angeblich korrupte System mit bislang beispielloser Schärfe an und stellte die eigene Bewegung als die einzig wirkungsvolle Alternative zu Marxismus und Bolschewismus dar. («Rex ou Moscou!» lautete eine der groß plakatierten Parolen.) Dem aggressiven Wahlkampf von 1935 folgte ein triumphales Wahlergebnis: Die Rexisten stellten im neuen Parlament 21 von insgesamt 200 Abgeordneten.
Als Dégrelle zwei Jahre später, im April 1937, bei einer Ersatzwahl in Brüssel als Kandidat der Rexisten antrat, wendete sich das Blatt. Ministerpräsident Paul Van Zeeland vom Katholischen Block, der selbst bisher kein Mandat innegehabt hatte, ließ sich als Kandidat aller staatstragenden Parteien aufstellen. Auf den Ministerpräsidenten entfielen bei der Wahl 275.000, auf Dégrelle etwa 70.000 Stimmen. Zum Sieg Van Zeelands über Dégrelle trug wesentlich bei, daß sich Kardinal Josef Ernst Van Roy, vom Herausforderer um ein öffentliches Votum gebeten, gegen Dégrelle aussprach. Danach zerfiel die rexistische Bewegung rasch. Die mittelständischen und bäuerlichen Wähler, die sich ihr angeschlossen hatten, kehrten zu den bürgerlichen Parteien zurück. Ob man den Rexismus der Jahre 1935 bis 1937 als «faschistisch»bezeichnen kann, ist fraglich. So militant und demagogisch Dégrelle auftrat, so fehlten seiner Bewegung doch andere Merkmale faschistischer Parteien, obenan der Aufbau einer paramilitärischen, uniformierten Garde und die Anwendung von Gewalt gegenüber dem politischen Gegner.
In den zeitweiligen Erfolgen rechtsradikaler Organisationen spiegelten sich die schwere Wirtschaftskrise und ihre Folgen: hohe Arbeitslosigkeit, Lohnsenkungen bei den Bergarbeitern, große Streiks, mehrfache Abwertungen des belgischen Franc. Unter Paul Van Zeeland, der von März 1935 bis Oktober 1937 an der Spitze von katholisch-liberalsozialistischen Koalitionskabinetten stand, begann eine allmähliche wirtschaftliche Erholung. Sie trug mit dazu bei, daß Van Zeeland bei der Brüsseler Nachwahl vom April 1937 Dégrelle auf den zweiten Platz verweisen konnte. Noch wichtiger war das Zusammenstehen der drei Regierungsparteien. Es zeigte, daß die meisten Flamen und Wallonen etwas kannten, was ihnen wichtiger war als die Pflege ihrer sprachlichen und kulturellen Identität: das gemeinsame Interesse an der Bewahrung von Freiheit und Demokratie – und damit auch der Verfassung des belgischen Staates, die beides verbürgte.
Wie Belgien hatte auch Luxemburg im August 1914 erfahren müssen, daß seine völkerrechtlich verbürgte
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