Geschichte des Westens
könne, wenn man der Mussert-Bewegung nicht entschieden entgegentrete, leicht zu einer Beute des Expansionsdrangs des nationalsozialistischen Deutschland werden.
Während die Niederlande ihren Kolonialbesitz zu bewahren strebten, konnte Belgien den seinen im Gefolge des Ersten Weltkrieges noch erweitern. 1916 besetzte die von weißen Offizieren geführte Söldnertruppe der Force Publique von Belgisch-Kongo im Zusammenhang mit einer britischen Offensive gegen Deutsch-Ostafrika einen Teil dieser Kolonie, nämlich Ruanda-Urundi, die heutigen Staaten Ruanda und Burundi. Auf Grund einer Absprache mit Großbritannien vom Mai 1919 erhielt Belgien das Völkerbundsmandat für die Verwaltung dieses Gebiets. 1925 wurde Ruanda-Urundi Belgisch-Kongo administrativ angegliedert.
Im Kongo-Staat König Leopolds II. war die einheimische Bevölkerung auf derart barbarische Weise ausgebeutet und drangsaliert worden, daß es darüber zu scharfen internationalen Protesten kam. Die Abtretung des privaten «Freistaates» an den belgischen Staat, zu der sich Leopold II. schließlich 1908 genötigt sah, änderte nicht viel am System der kolonialen Ausbeutung dieses riesigen, rohstoffreichen Gebietes. Die beherrschende Stellung innerhalb dieses Systems fiel der Union Minière du Haut Katanga zu, die 1906 mit dem Abbau der großen Kupfererzvorkommen von Katanga begonnen hatte. Die Union Minière wurde ihrerseits von der belgischen Société Générale kontrolliert, deren Aktien zur Hälfte in der Hand des Staates waren. Nach der Verschmelzung mit der Banque d’Outre-Mer im Jahre 1928 besaß die Société Générale 70 Prozent des gesamten in Belgisch-Kongo investierten Kapitals. Die Folge des Zusammenwirkens von Staat und Privatwirtschaft war die Entstehung des größten afrikanischen Industriegebietes, in dem schwarze Arbeiter zu Hungerlöhnen die Profite der weißen Eigentümer erwirtschafteten.
Mitte der zwanziger Jahre begann die Union Minière mit ihrer sogenannten «stabilisierten Arbeitskräftepolitik»: Die schwarzen Arbeiter und ihre Familien wurden unter primitivsten Bedingungen in der Nähe der Bergwerke angesiedelt, wodurch sie einer sehr viel intensiveren Kontrolle unterworfen waren als in der Zeit, in der sie noch Wanderarbeiter gewesen waren. Gegenwehr blieb nicht aus: Prophetische Bewegungen wie der «Kimbanguismus» und der «Kitwala-Kult» beriefen sich auf die Bibel, um damit ein Widerstandsrecht der unterdrückten Bevölkerung zu begründen. Die katholische Kirche Belgiens, die auf Grund des Konkordats von 1906 bei der Missionsarbeit in Belgisch-Kongo eine privilegierte Stellung genoß, war kein Verbündeter,sondern ein entschiedener Gegner solcher Art von Bibeldeutung. Was sie in den Missionsstationen für das Erziehungswesen tat, beschränkte sich auf die Ausbildung von Hilfskräften für einfachste Aufgaben in Produktion und Dienstleistungen aller Art. Belgisch-Kongo blieb auch nach dem Ersten Weltkrieg ein Paradebeispiel für die imperialistische Ausbeutung eines Kolonialgebietes, in dem die Interessen der Kapitalisten alles, die der schwarzen Arbeiter nichts bedeuteten.
Das Mutterland, das Königreich Belgien, erlebte nach dem Ersten Weltkrieg einen Demokratisierungsschub in Gestalt des allgemeinen gleichen Wahlrechts, das 1919 eingeführt wurde. (Die Frauen erhielten allerdings nur das aktive Wahlrecht, das passive erst 1949.) Die meist kurzlebigen Regierungen der Zwischenkriegszeit waren in der Regel entweder Kabinette der drei staatstragenden Parteien, der Katholiken, Sozialisten und Liberalen (so von 1918 bis 1921, 1926/27 und von 1936 bis 1939), oder katholisch-liberale Koalitionsregierungen (von 1921 bis 1925, von 1927 bis 1935 und erneut von April bis September 1939). 1925/26 und im Februar 1939 kam es zu Kabinetten von Katholiken und Sozialisten. Die Kommunisten zogen erstmals 1925 ins Parlament ein, spielten dort aber nur eine Randrolle.
Das beherrschende Thema der belgischen Innenpolitik war der Zusammenhalt des (wenn man von der kleinen deutschen Minderheit in Eupen-Malmedy absieht) binationalen Staates. Während des Ersten Weltkrieges hatte die deutsche Besatzungsmacht separatistische Bestrebungen in Flandern gefördert und bei einer Minderheit der flämischen «Aktivisten» kollaborationsbereite Partner gefunden. Nach 1918 gewann die gemäßigte Richtung der flämischen Autonomiebewegung, die eine föderalistische Umgestaltung Belgiens, vor allem aber eine Aufwertung der niederländischen
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