Geschichte des Westens
das Mehrheitswahlrecht durch das Verhältniswahlrecht ersetzt.
Die Regierungen der Zwischenkriegszeit waren durchweg «bürgerlich». Das lag vor allem daran, daß die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die nach der Wahlrechtsreform von 1922 zur zweitstärksten Partei aufstieg, bis zum August 1939 eine Teilnahme an Koalitionskabinetten strikt ablehnte. Die Kommunistische Partei kam über den Status einer Splitterpartei nicht hinaus: Bei den Parlamentswahlen vor 1925 entfielen auf sie 36.000, auf die Sozialdemokraten 706.000 Stimmen. Die bürgerlichen Parteien hatten meist konfessionellen Charakter: auf protestantischer Seite die Christlich-Historische Union und die Antirevolutionäre Partei, auf katholischer Seite seit 1926 die Römisch-Katholische Staatspartei.
Zu Beginn der dreißiger Jahre bekamen auch die Niederlande die Weltwirtschaftskrise voll zu spüren. Angesichts eines drastischen Rückgangs der Börsenkurse und der Großhandelspreise sowie steigender Arbeitslosenzahlen bildete der Vorsitzende der Antirevolutionären Partei, Hendrikus Colijn, im Mai 1933 ein Krisenkabinett, das sich rasch auf ein Bündel von Maßnahmen zur Überwindung der Finanzkrise verständigte. Dazu gehörten Produktions- und Absatzregelungen sowie Schutzzölle für die Landwirtschaft, aber keine staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Eine Abwertung des Guldens lehnte die Regierung ab; im September 1936 sah sich das dritte Kabinett Colijn dann aber doch genötigt, die Bindung des Guldens an den Goldpreis aufzugeben. Die Folge war eine Abwertung der niederländischen Währung um 20 Prozent – eine Korrektur, die die niederländische Wirtschaft binnen kurzem wieder international konkurrenzfähig machte. Die Arbeitslosigkeit aber sank nur langsam: Sie lag im Durchschnitt der Jahre 1935 bis 1939 höher als in irgendeinem anderen statistisch erfaßten Land Europas.
Colijn blieb bis zum Juli 1939 im Amt des Ministerpräsidenten. Von Anfang an sah er es als zentrale Aufgabe seines Kabinetts an, dem Radikalismus von rechts energisch entgegenzutreten. Als dessen Speerspitze präsentierte sich die Ende 1931 von dem Ingenieur Anton Adriaan Mussert in Utrecht gegründete Nationaal-Socialistische Beweging(NSB), die die deutschen Nationalsozialisten als Vorbild betrachtete und sie in vielem, bis hin zur Uniformierung, nachahmte. Im Herbst 1933 zählte sie etwa 20.000 Mitglieder; bei den Wahlen zur ersten Kammer des Landtags errang sie 1935 8 Prozent, bei den Wahlen zur zweiten Kammer 1937 noch 4,2 Prozent. Ein von der Regierung erlassenes, gegen die Mussert-Bewegung gerichtetes Uniformverbot wurde flankiert vom Verbot der Mitgliedschaft in der NSB für Beamte. Die katholischen Bischöfe der Niederlande warnten in mehreren Hirtenbriefen vor den einheimischen Nationalsozialisten. Einen breiten Massenrückhalt erlangte die Mussert-Bewegung nicht – ein Erfolg vor allem des geschlossenen Auftretens der größeren bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokraten wie der ihnen nahestehenden Zeitungen.
Furcht vor der äußersten Linken spielte auch in den Niederlanden eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung von Anhängern der radikalen Rechten. Ein von der NSB weidlich ausgeschlachtetes Ereignis, das zeitweilig große Beunruhigung hervorrief, war Anfang 1933 eine Meuterei auf dem Kriegsschiff «Zeven Provincien». Nicht nur Mussert und seine Mitstreiter, sondern auch große Teile der Bevölkerung sahen in dem Vorfall einen Anschlag der Dritten Internationale auf die Flotte und damit zugleich auf das niederländische Kolonialreich.
Tatsächlich waren kommunistische Aufstände in Java und Sumatra, zwei der größten Inseln von Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien, 1926/27 nur nach schweren Kämpfen niedergeschlagen worden. In den Jahren danach ging die Führung der Unabhängigkeitsbewegung in Niederländisch-Indien mehr und mehr in die Hände radikaler Nationalisten um Achmed Sukarno über. In den dreißiger Jahren trat zu dieser Bedrohung eine weitere hinzu: die durch das immer aggressiver auftretende Japan. Von Einsicht in die Unhaltbarkeit der Kolonialherrschaft und die Legitimität des antikolonialen Befreiungskampfes waren die Niederlande zu jener Zeit aber noch weit entfernt. Der im frühen 17. Jahrhundert erworbene Kolonialbesitz in Südostasien galt als ein Unterpfand nationaler Größe. Die Angst, dieses Besitztum zu verlieren, war in den dreißiger Jahren nicht minder groß als die berechtigte Furcht, das Mutterland
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