Geschichte des Westens
Neutralität keinen Schutz vor einem deutschen Einmarsch gewährte. In Belgien waren König Albert I. und die Regierung in den kleinen Teil von Westflandern ausgewichen, der nicht in deutsche Hände fiel. In Luxemburg setzten Großherzogin Marie Adelheid und die Regierung ihre Arbeit fort, soweit das unter den Bedingungen der Besetzung möglich war. (Anders als Belgien hatte Luxemburg dem Deutschen Reich nicht den Krieg erklärt, aber auf der Fortdauer seiner Neutralität bestanden.) Nach dem Einmarsch der Alliierten im November 1918 geriet das Land in eine schwere Krise: Die Sozialisten bildeten am 10. November einen Arbeiter- und Bauernrat nach russischem und deutschem Vorbild und verlangten den Rücktritt der Großherzogin und der Dynastie sowie die Sozialisierung der Schwerindustrie und die Einführung des Achtstundentags. Gleichzeitig agitierte eine profranzösische Bewegung für den Anschluß an Frankreich. Die Mehrheit der Abgeordnetenkammer beschloß am 13. November einen Volksentscheid über die künftige Staatsform und die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der die Praktizierung der Neutralität durch Krone und Regierung seit 1914 prüfen sollte.
Im Januar 1919 scheiterte ein Versuch der radikalen Linken, eine provisorische republikanische Regierung einzusetzen. Großherzogin Marie Adelheid verzichtete am 14. Januar zugunsten ihrer Schwester Charlotte auf den Thron und begab sich in ein Kloster. Im September 1919 konnte schließlich mit Zustimmung der Alliierten die Volksabstimmung über die künftige Staatsform stattfinden. Sie erbrachte eine knappe Vierfünftelmehrheit für die staatliche Selbständigkeit und die Beibehaltung der Dynastie.
Der von Luxemburg gewünschte Zollanschluß an Frankreich kam nicht zustande. Belgien strebte seinerseits eine Zollunion mit Luxemburg an, für die es einen hohen Preis zu zahlen bereit war: die geheime Militärallianz mit Frankreich vom 7. September 1920 für den Fall eines nichtprovozierten Angriffs Deutschlands, was die Preisgabe der belgischen Neutralität, einer Bedingung der Staatsgründung von 1831, bedeutete. Im Juli 1921 wurde der Vertrag über eine Zollunion zwischen Belgien und Luxemburg abgeschlossen – eine Vorstufe jener größeren, «Benelux» genannten Zollunion zwischen Belgien, den Niederlanden und Luxemburg, die am 1. Januar 1948 in Kraft trat. Die innenpolitische Beruhigung, die mit dem Volksentscheid vom September 1919 begonnen hatte, wurde gefördert durch die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts für Männer und Frauen Ende 1919. Bei den anschließenden Wahlen gewann die katholische Partei die absolute Mehrheit. Seit 1925 wurde das Großherzogtum von einer Koalition aus Katholiken, Liberalen und Konservativen regiert. Bis zur abermaligen Besetzung durch deutsche Truppen im Mai 1940 blieben der luxemburgischen Demokratie ernsthafte Erschütterungen erspart.
Im Gegensatz zu Belgien und Luxemburg hatte die Schweiz ihre Neutralität während des Ersten Weltkrieges unangefochten behaupten können. Im Herbst 1918 aber geriet die Eidgenossenschaft in eine schwere innenpolitische Krise. Pläne des Bundesrats, einen obligatorischen Zivildienst einzuführen, lösten in der Arbeiterschaft heftige Proteste aus. Als Anfang November in Zürich Truppen mobilisiert wurden, die eine geplante Kundgebung aus Anlaß des ersten Jahrestages der russischen Oktoberrevolution verhindern sollten, rief das kurz zuvor gegründete Oltener Aktionskomitee unter Vorsitz des linken Nationalrates Robert Grimm, ein faktisch in Konkurrenz zum sozialdemokratischenParteivorstand eingesetztes Gremium, die Arbeiter zunächst zum örtlichen, dann zum landesweiten Generalstreik auf.
Der Ausstand begann am 12. November und veranlaßte Bundesrat und Bundesversammlung, das heißt Nationalrat und Ständerat, zum Einsatz von Armeeeinheiten unter dem Befehl von Oberstdivisionär Emil Sonderegger sowie zu einem bis zum 14. November befristeten Ultimatum an das Oltener Aktivistenkomitee. Da sich nur Teile der Arbeiterschaft am Streik beteiligt hatten, beugte sich das Komitee dem staatlichen Druck: Am 15. November wurde überall in der Schweiz die Arbeit wieder aufgenommen.
Eine
Forderung der Streikenden, die Einführung der 48-Stunden-Woche, wurde 1919 erfüllt. Ohne positives Echo blieb hingegen der Ruf der Streikleitung nach sofortigen Neuwahlen und dem aktiven und passiven Wahlrecht für Frauen. Am 10. April 1919 wurden drei
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