Geschichte des Westens
Gewerkschaften gewannen zwar durch das Gesetz vom 5. Dezember 1916 an Einfluß, doch rückten sie zugleich derart nahe an den Staat, das Militär und die Unternehmerschaft heran, daß sie in den Augen vieler Arbeiter aufhörten, eine proletarische Interessenvertretung zu sein.
Das Hilfsdienstgesetz fiel in eine Zeit härtester Entbehrungen, ja des verbreiteten Hungers: des «Steckrübenwinters» 1916/17. Die soziale Not steigerte die politische Unzufriedenheit auf dem linken Flügel der Sozialdemokratie; die russische Februarrevolution gab den Gegnern der Parteiführung, unter ihnen den 18 im März 1916 aus der Reichstagsfraktion ausgeschlossenen Mitgliedern der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft, den letzten Anstoß zur Trennung von der Partei. Im April 1917 gründeten sie in Gotha die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD), die dem herrschenden Regierungssystem, der Kriegspolitik der Reichsleitung, den Kriegskrediten und dem Burgfrieden den Kampf ansagte.
Kurz darauf kam es in vielen Großstädten zu «wilden» Massenstreiks. In der Berliner Metallindustrie traten dabei erstmals die Revolutionären Obleute, die auf dem linken Flügel der USPD standen, in Erscheinung. Vordergründig ging es bei dem Ausstand um eine Erhöhung der Brotrationen, in Wirklichkeit aber um den ersten großen, weite Teile des Reiches erfassenden Arbeiterprotest gegen den Krieg. Doch es waren nicht nur Arbeiter, die sich auflehnten, sondern auch Soldaten. In der Flotte mehrten sich seit Juni 1917 Hungerstreiks und unerlaubte Landgänge. Die Militärjustiz reagierte mit drakonischen, rechtlich nicht haltbaren Strafen gegen die «Rädelsführer». Gegen zehn Matrosen wurden Todesstrafen verhängt, an zweien wurden sie im September vollstreckt.
Die Reichsleitung tat wenig, um die innenpolitische Lage zu beruhigen. Reichskanzler von Bethmann Hollweg konnte den Kaiser zwar zu jener «Osterbotschaft» vom 7. April 1917 bewegen, in der Wilhelm II. Verfassungsreformen für die Zeit nach dem Krieg, darunter eine Reform des preußischen Wahlrechts, ankündigte. Aber ein Bekenntnis zum allgemeinen gleichen Wahlrecht ließ sich daraus nichtherauslesen. Um dieselbe Zeit häuften sich die Krisenzeichen beim wichtigsten Verbündeten. Kaiser Karl, der Großneffe und Nachfolger des im November 1916 verstorbenen Kaisers Franz Joseph, hatte sich zwischen Januar und April 1917, wenn auch vergeblich, um einen Sonderfrieden mit Frankreich bemüht und dabei einen (von Berlin strikt abgelehnten) deutschen Verzicht auf Elsaß-Lothringen ins Spiel gebracht. Das Scheitern der Friedensfühler machte die Habsburgermonarchie noch abhängiger von Deutschland, änderte aber nichts an dem Wunsch der Wiener Führung, um der Bewahrung des Vielvölkerstaates willen den Krieg möglichst rasch zu beenden.
Für Theobald von Bethmann Hollweg wurde die Lage im Verlauf des Sommers 1917 immer bedrohlicher. Auf der einen Seite drängten zwei der Parteien, die ihn bisher unterstützt hatten, auf einen Bruch mit der annexionistischen Rechten: das katholische Zentrum unter dem Einfluß des württembergischen Abgeordneten Matthias Erzberger, der zuvor selbst ausgreifenden Eroberungen das Wort geredet hatte, und, unter dem Druck der USPD, die Mehrheitssozialdemokraten. Auf einer von holländischen und skandinavischen Sozialisten angeregten internationalen Konferenz in Stockholm machte sich die SPD im Juni 1917 die Formel des Petrograder Kongresses des örtlichen Arbeiter- und Soldatensowjets vom «Frieden ohne Annexionen und Kontributionen» zu eigen. Wenig später forderten die Sozialdemokraten den Kanzler anläßlich einer neuen Kriegskreditvorlage ultimativ auf, sich klar zur Frage der deutschen Kriegsziele und seinen innenpolitischen Absichten zu äußern. Bethmann Hollweg weigerte sich, diesem Verlangen nachzukommen, und entzog sich damit selbst die parlamentarische Mehrheit, auf die er sich seit dem 4. August 1914 gestützt hatte.
Auf der anderen Seite stellte sich, aus dem entgegengesetzten Grund, die Oberste Heeresleitung gegen den Reichskanzler: Ihr war Bethmann Hollweg viel zu wenig entschieden bei der Durchsetzung dessen, was das Militär für notwendig hielt. Um den Kaiser zur Entlassung Bethmann Hollwegs und der Ernennung eines der OHL genehmen Reichskanzlers zu zwingen, reichten Hindenburg und Ludendorff am 12. Juli ihre Abschiedsgesuche ein. Wilhelm II. fügte sich und ernannte am 14. Juli den preußischen Staatskommissar für
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