Geschichte des Westens
die Herausbildung der für den Faschismus typischen Doppelstruktur: Der Oberste Rat stand in Konkurrenz zum Parlament, die faschistische Miliz war eine Machtsäule neben dem Heer.
Im März 1923 wurde die Associazione Nazionalista Italiana, der 1910 von Enrico Corradini gegründete Kampfverband des radikalen Nationalismus, mit der faschistischen Partei verschmolzen. Zwei ihrer Führer, Luigi Federzoni und Alfredo Rocco, übernahmen später Schlüsselressorts in der Regierung: Federzoni im Juni 1924 das Innen-, Rocco im Januar 1925 als Justizministerium. Ende April 1923 wurdendie Minister der Popolari aus dem Kabinett entlassen, nachdem zuvor ein Kongreß der katholischen Partei in Turin Kritik an den fortdauernden Gewalttaten der Faschisten und ihrer Ideologie geübt und sich gegen die von Mussolini in die Wege geleitete Wahlrechtsreform ausgesprochen hatte. Im Juli 1923 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet, die «Legge Acerbo». Ihr einziger Zweck war es, dem «listone», der gemeinsamen Liste der Faschisten und ihrer bürgerlichen Verbündeten, der «fianchegiattori», eine solide Mehrheit zu verschaffen: Die erfolgreichste Liste erhielt, sofern mindestens ein Viertel der abgegebenen gültigen Stimmen auf sie entfiel, zwei Drittel der Sitze. In der Abgeordnetenkammer stimmten 235 Parlamentarier für und 140 gegen das Gesetz, im Senat war das Stimmenverhältnis 165 zu 41.
Unter den Nein-Stimmen waren die der Kommunisten und Sozialisten, der reformistischen Sozialdemokraten um Ivanoe Bonomi und der Abgeordneten der Demokratischen Partei Giovanni Amendolas. Die meisten Popolari enthielten sich der Stimme; die 39 Abgeordneten, die für oder gegen das Gesetz stimmten, wurden aus der Partei ausgeschlossen. Einige der dem Vatikan besonders nahestehende Senatoren der Popolari verließen daraufhin die Partei, was allgemein als Absage der Kurie an die katholische Partei verstanden wurde. Die Liberalen, unter ihnen die früheren Ministerpräsidenten Giolitti, Salandra und Orlando, stimmten für die Legge Acerbo und damit gegen das parlamentarische System. Noch immer sahen sie in der Regierung Mussolini das kleinere Übel, verglichen mit dem Chaos der frühen Nachkriegszeit. Den anhaltenden Terror lokaler Faschistenführer nahmen sie billigend in Kauf, da er sich nicht gegen sie, sondern gegen die Linke richtete.
Für den faschistischen Straßenterror bedeutete der «Marsch auf Rom» keine Zäsur: Die Zahl der Gewalttaten gegen politische Gegner ging nach der Regierungsübernahme Mussolinis nicht zurück. Allein zwischen dem 18. und dem 20. Dezember 1922 wurden, als Vergeltung für die Ermordung von zwei Faschisten, in Turin zwischen 11 und 22 (die Zahlenangaben schwanken) Kommunisten, Anarchisten und Sozialisten umgebracht. Verhaftungen und Verurteilungen von Gewalttätern aus den Reihen der Squadre waren äußerst selten. Verhaftet wurden hingegen in großer Zahl kommunistische Funktionäre: zwischen Dezember 1922 und Februar 1923 insgesamt 2235, 252 von ihnen im Zusammenhang mit der Verhaftung des ultralinken ParteiführersAmadeo Bordiga, eines erklärten Gegners einer Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Sozialisten. Im April 1923 wurde Bordiga vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale, das sich unter dem Eindruck der faschistischen Machtübernahme inzwischen auf die Taktik der linken Einheitsfront festgelegt hatte, als Parteiführer abgelöst. In der neuen, von der Komintern eingesetzten Parteiführung hatte die Gruppe um Bordiga keine Mehrheit mehr.
Die ersten Wahlen nach dem neuen Wahlgesetz fanden am 6. April 1924 statt. Der Wahlkampf war geprägt von Gewalttaten der Squadre gegen die oppositionelle Linke. Der Urnengang erbrachte trotz der massiven Einschüchterungen der Antifaschisten und zahlreicher Manipulationen «nur» 65 Prozent für die gemeinsame Liste der Faschisten und ihrer Verbündeten: Auf sie entfielen 356 Mandate, während die oppositionellen Parteien 141 Abgeordnete stellten, darunter 39 Popolari, 24 Reformisten des Partito Socialista Unitario (PSU), 22 sozialistische Maximalisten und 19 Kommunisten. In den nördlichen Regionen Piemont, Ligurien, Lombardei und Venetien hatten die Oppositionellen die Mehrheit errungen, im übrigen Italien der gouvernementale «listone».
Knapp acht Wochen nach der Wahl, am 30. Mai 1924, prangerte Giacomo Matteotti, der Sekretär der PSU, in der Deputiertenkammer den faschistischen Terror während des Wahlkampfes an und forderte,
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