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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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ständig von stürmischen Zwischenrufen der Mehrheit unterbrochen, die Annullierung der Wahl. Es blieb nicht bei verbalen Protesten der Faschisten. Am 10. Juni wurde Matteotti auf dem Weg ins Parlament am Lungotevere Arnaldo di Brescia von fünf Squadristen unter Führung von Amerigo Dumini überfallen, in ein Auto gezerrt und dort durch einen Dolchstoß in die Brust getötet. Die Leiche des sozialistischen Deputierten wurde erst am 16. August in der Macchia della Quartarella, einem Wald bei der Gemeinde Riano nahe Rom, entdeckt.
    Das Verschwinden Matteottis stürzte Italien in einen Zustand höchster Erregung und den regierenden Faschismus in seine bisher tiefste Krise. Mit Ausnahme der Kommunisten und einiger unabhängiger Liberaler, darunter Giolitti, zogen die oppositionellen Abgeordneten unter Führung Amendolas, dem legendären antiken Beispiel der «secessio plebis» zu Beginn des 5. Jahrhunderts vor Christus folgend, aus der Kammer aus, um sich auf dem Aventin als die wahre Volksvertretung zu konstituieren. Mussolini behauptete am 13. Juni vor der Kammer,nur einer seiner Feinde habe sich eine derart teuflische Tat wie die vom 10. Juni ausdenken und ein solches Verbrechen verüben können. Tags darauf entließ er einige besonders diskreditierte faschistische Staatsfunktionäre wie den Leiter seines Presseamtes, Cesare Rossi, und den Unterstaatssekretär des Innenministeriums, Aldo Finci. Am 16. Juni gab Mussolini das Amt des Innenministers auf und übertrug es dem ehemaligen Nationalisten Luigi Federzoni. In den folgenden Wochen sorgte Polizeichef Emilio de Bono, bevor auch er entlassen (und zum Kommandierenden General der Miliz ernannt) wurde, dafür, daß die unmittelbar an der Tat beteiligten, mittlerweile verhafteten, Squadristen bis auf einen fliehen konnten und straffrei blieben.
    Trotz aller Dementis zweifelte kaum jemand daran, daß die eigentliche und letzte Verantwortung an der Ermordung Matteottis, an der es seit Mitte August nichts mehr zu deuteln gab, beim Mann an der Spitze der Regierung lag. Doch zu irgendwelchen Aktionen der Gegner kam es nicht. Die Opposition auf dem Aventin hatte zwar endlich zu einer prekären Einheit gefunden, aber diese blieb praktisch folgenlos. Ein Generalstreik, wie die Kommunisten ihn forderten, wurde nicht ausgerufen, weil er dem Gros der antifaschistischen Abgeordneten als Spiel mit dem Feuer des Bürgerkriegs erschien. Statt dessen setzten viele, obenan Amendola, ihre Hoffnung auf ein Eingreifen König Umbertos II. Doch dieser verwies auf die Verantwortung der Deputiertenkammer, die seit dem Auszug der Opposition ein Rumpfparlament war, und des Senats, der der Regierung Mussolini am 26. Juni und am 5. Dezember das Vertrauen aussprach.
    Am 27. Dezember veröffentlichte «Il Mondo», die Zeitung Amendolas, ein «Memoriale» des entlassenen Staatssekretärs Rossi, das Mussolini schwer belastete. Demnach hatte der «Duce» kurz nach Matteottis Rede vom 30. Mai zu Rossi gesagt: «Was macht diese
Tscheka
? (Cosa fa questa Ceka?). Was macht Dumini? Jener Mann (Matteotti, H. A. W.) sollte nach einer derartigen Rede aus dem Verkehr gezogen werden … (Quell’uomo dopo quel discorso non dovrebbe più circolare …).» Amerigo Dumini stand an der Spitze einer der bolschewistischen Geheimpolizei, der Tscheka, ähnlichen Organisation der Squadre. Mussolinis Worte, wenn sie denn so gefallen waren, konnten kaum anders gedeutet werden denn als Aufforderung, den oppositionellen Parlamentarier zum Schweigen zu bringen. Der Regierungschef als Auftraggeber eines Mordes: Rossis Memorandumschien den Verdacht der Antifaschisten in eine Gewißheit zu verwandeln.
    Mussolini hatte im Spätsommer und Herbst 1924 lange geschwankt, ob er mehr auf radikale Faschisten wie Roberto Farinacci hören sollte, die ihn zu einem harten Vorgehen gegenüber der Opposition drängten, oder ob es besser wäre, die Zusammenarbeit mit seinen liberalen Unterstützern fortzusetzen, was auf politische Mäßigung hinauslief. Auf einem Parteitag der Liberalen in Livorno Anfang Oktober war die gouvernementale Richtung in der Minderheit geblieben. Im November wandten sich Giolitti und Orlando, Ende Dezember, nach der Veröffentlichung von Rossis «Memoriale», auch Salandra gegen die Regierung. Nach der Abwanderung seiner bisherigen Partner blieb dem «Duce» nur noch die Rückendeckung des harten Kerns der faschistischen Bewegung. Die Abwanderung seiner bisherigen Partner schwächte die Position

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