Geschichte des Westens
Volksernährung, Georg Michaelis, einen politisch unerfahrenen Verwaltungsjuristen, zum Nachfolger Bethmann Hollwegs. Von ihm hatte die OHL eine eigenständige Politik nicht zu befürchten.
Zwei Tage zuvor hatten sich die drei Parteien, die im neugebildeten Interfraktionellen Ausschuß zusammenarbeiteten, die Mehrheitssozialdemokraten, das Zentrum und die linksliberale Fortschrittliche Volkspartei, auf eine «Friedensresolution» geeinigt. Darin bekannten sich die fortan «Mehrheitsparteien» genannten Fraktionen zu einem «Frieden der Verständigung und der dauernden Aussöhnung der Völker». Ein solcher Friede sei unvereinbar mit «erzwungenen Gebietsabtretungen und politischen, wirtschaftlichen oder finanziellen Vergewaltigungen». Die Formulierung ließ durchaus Raum für eine Vergrößerung des deutschen Einflußgebietes, war aber aus Sicht der weiter rechts stehenden Parteien, von den Nationalliberalen bis zu den Deutschkonservativen, viel zu «weich». Die OHL protestierte schärfstens gegen die Entschließung, konnte aber nicht verhindern, daß der Reichstag sie am 19. Juli mit 212 gegen 126 Stimmen bei 17 Enthaltungen annahm. Der neue Reichskanzler hatte zuvor erklärt, die Ziele der Reichsleitung ließen sich «im Rahmen Ihrer Resolution, wie ich sie auffasse, erreichen».
Die nationalistische Rechte antwortete auf den Beschluß der Reichstagsmehrheit im September 1917 mit der Gründung der Deutschen Vaterlandspartei. Sie war als Sammelbecken aller «vaterländischen» Kräfte gedacht und hatte ihren wichtigsten Rückhalt im ostelbischen Preußen. Ihre Aktivisten kamen vorwiegend aus dem evangelischen Bildungsbürgertum und dem gleichfalls evangelischen Rittergutsbesitz, ihre Anhänger aus den Reihen der Konservativen und der Nationalliberalen. Da sich zahlreiche «nationale» Verbände der neuen Partei korporativ anschlossen, kam sie rasch auf hohe Mitgliederzahlen (angeblich 450.000 im März und 800.000 im September 1918). In ihrem Gründungsaufruf behauptete die Vaterlandspartei, die deutsche Freiheit stehe «himmelhoch über der unechten Demokratie mit allen ihren angeblichen Segnungen, welche englische Heuchelei und ein Wilson dem deutschen Volke aufschwatzen wollen, um so das in seinen Waffen unüberwindliche Deutschland zu vernichten». Einem Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, von der Rechten nach einem der beiden Vorsitzenden der SPD kurz «Scheidemann-Frieden» genannt, stellte die Vaterlandspartei einen «Hindenburg-Frieden» entgegen, der den «Siegespreis ungeheurer Opfer und Anstrengungen» heimbringen werde.
Die Gründung der Deutschen Vaterlandspartei war kein Ausdruck verbreiteter «Kriegsbegeisterung», sondern im Gegenteil ein Versuch,der wachsenden Kriegsmüdigkeit entgegenzuwirken. Die Enttäuschung über die unerwartet lange Dauer des Krieges machte sich zu jener Zeit Luft in einer Jagd auf Sündenböcke, die man für Schleichhandel und Wucher, für die Verschärfung der Klassengegensätze und die Zersetzungserscheinungen im Militär verantwortlich machen konnte. Für diese Rolle war aus der Sicht der äußersten Rechten niemand so gut geeignet wie die Juden, die pauschal verdächtigt wurden, heimlich Verbündete der Feindmächte zu sein. Der Gießener Chemieprofessor Hans von Liebig, ein prominenter Alldeutscher, ging bereits im Dezember 1915 so weit, Bethmann Hollweg öffentlich den «Kanzler des deutschen Judentums» zu nennen. Der in vielen Beschwerden aus völkischen Kreisen geäußerte pauschale Vorwurf, daß unter den «Drückebergern», die sich dem Militärdienst entzögen, auffallend viele Juden seien, veranlaßte das preußische Kriegsministerium im Oktober 1916, eine «Judenstatistik» für das Heer anzuordnen. Das Ergebnis, das diese Diffamierung schlagend widerlegte, wurde erst nach dem Krieg veröffentlicht. Die bloße Tatsache der «Judenzählung» aber bedeutete bereits eine staatliche Anerkennung und Legitimierung des Antisemitismus.
Im Herbst 1917 erlebte Deutschland den zweiten Kanzlerwechsel innerhalb von vier Monaten. Ausgelöst wurde der Sturz Michaelis’ durch maßlose und unhaltbare Angriffe, die der Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Eduard von Capelle, am 9. Oktober im Reichstag gegen die Führer der USPD richtete: Er warf ihnen vor, sie hätten Aufstandspläne bei der Hochseeflotte unterstützt. Friedrich Ebert, zusammen mit Philipp Scheidemann, Vorsitzender der Mehrheitssozialdemokraten, sagte daraufhin dem Reichskanzler offen den
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