Geschichte des Westens
nicht anders als in Deutschland und Frankreich, die soziale Unruhe beträchtlich. Die ersten größeren Streiks hatte es im Februar 1915 gegeben. Dabei waren erstmals die «shop stewards», gewählte Betriebsvertrauensleute, als Organisatoren von Ausständen und damit auch als Herausforderer der Gewerkschaften hervorgetreten. Ähnlich wie die Revolutionären Obleute in der Berliner Metallindustrie und die USPD warfen sie, im engen Zusammenspiel mit der entschieden antimilitaristischen Independent Labour Party, den Trade Unions und der Mehrheit der Labour Party eine wachsende Mißachtung der Arbeiterinteressen vor. Die Kritik wurde schärfer, als Labour und Gewerkschaften im Juli 1915 einem Rüstungsgesetz (Munitions Act) zustimmten, das die Freiheit der Arbeiter auf vergleichbare Weise einschränkte wie später, im Dezember 1916, das Vaterländische Hilfsdienstgesetz in Deutschland. 1916 erfaßte die britische Statistik 76.000 Streikende in der Maschinenbauindustrie, an den Werften und im metallverarbeitenden Gewerbe, wobei 346.000 Arbeitstage verloren gingen. 1917 stieg die Zahl der streikenden Arbeiter auf 386.700 und die der ausgefallenen Arbeitstage auf 3 Millionen.
Die Regierung Lloyd George nahm die Arbeiterproteste so ernst, daß sie im Februar 1917 zu einer scharfen Kontrolle der Profite in der Kohlenindustrie überging und im Juni mehrere Kommissionen einsetzte, die die Ursache der sozialen Unruhen erforschen sollten. Offenkundig war, daß die russische Februarrevolution zur Radikalisierung innerhalb der britischen Arbeiterschaft beträchtlich beitrug. Im Juli 1917 forderte die Bergarbeitergewerkschaft die Einführung des Sechsstundentages und der Fünftagewoche. Im Oktober 1917 sah sich das Kriegskabinett genötigt, bestimmten Gruppen von Facharbeitern eine Lohnerhöhung von 12,5 Prozent zu gewähren. Eine Beruhigung der Lage trat dadurch jedoch nicht ein. Nach einem weiteren großen Streik in Coventry, einem Zentrum der Maschinenbauindustrie, drohte Rüstungsminister Winston Churchill den Streikenden ultimativ mit der Einberufung zum Militär, wenn sie nicht die Arbeit unverzüglich wieder aufnähmen. Eine von Churchill eingesetzte Untersuchungskommission kam zu dem Ergebnis: «Es ist augenscheinlich so, daß die Masse der Arbeiter danach strebt, die kriegsbedingte Regelung der Arbeitsbedingungen, wie sie derzeit besteht, zu mildern und so schnell wie möglich aufzuheben.»
Meutereien wie im französischen Heer im Frühjahr 1917 gab es im britischen nicht – auch nicht bei den schweren Kämpfen in der dritten Ypernschlacht bei Passchendaele, in der zwischen Juni und Oktober 1917 neben britischen auch Tausende von neuseeländischen und kanadischen Soldaten fielen. Die Offensive war, nachdem Premierminister Lloyd George seinen Widerstand dagegen aufgegeben hatte, auf Drängen von Feldmarschall Haig begonnen worden. Sie geriet, ähnlich wie die französische Offensive vom Frühjahr, zu einem katastrophalen Mißerfolg. Die Gesamtzahl der in Flandern Gefallenen auf der Seite der Truppen des Empire belief sich in der Zeit zwischen Ende Juli und Anfang November 1917 auf 245.000 (auf der deutschen Seite waren die Verluste wohl kaum sehr viel niedriger).
Die Zahlen der Desertionen in der British Expeditionary Force stiegen zwischen Februar und Dezember 1917 deutlich nach oben und sollten 1918 noch weiter wachsen, erreichten aber keine dramatischen Ausmaße: 1917 lag der Anteil der Anklagen wegen Desertion fast ständig deutlich unter 0,015 Prozent der britischen Mannschaftsstärke an der Westfront. Die Handhabung der Militärjustiz war im britischen Heer härter und willkürlicher als im deutschen, was sich auch in der unterschiedlichen Häufigkeit des Vollzugs der Todesstrafe niederschlug.Der wichtigste Grund dieses Sachverhalts lag offen zutage: Deutschland kannte die allgemeine Wehrpflicht seit langem, während das britische Heer sich nach 1914 von einer Berufsarmee in ein Freiwilligenheer und schließlich in eine Wehrpflichtarmee verwandelte, ohne daß gleichzeitig das alte Disziplinarrecht den veränderten Verhältnissen angepaßt wurde. Den tieferen Grund des deutsch-britischen «Härtegefälles» hat der deutsche Historiker Christoph Jahr in den Worten zusammengefaßt: «In Deutschland mit seiner Tradition als autoritärer Rechtsstaat entsprachen sich Zivilgesellschaft und Armee in vielerlei Hinsicht; anders dagegen in England, wo zweierlei Normsysteme für Zivilgesellschaft und Armee
Weitere Kostenlose Bücher