Geschichte des Westens
Sturm auf das Winterpalais gab es sechs Tote, die einzigen Toten der Oktoberrevolution in Petrograd. In Moskau, wo sich bewaffnete Offiziersanwärter gegen die bolschewistischen Kräfte eine Woche lang wehrten, lag die Zahl der Opfer höher. Auf entschlossenen Widerstand stießen die Bolschewiki im übrigen Land nur selten, am stärksten in Sibirien und im agrarischen Süden und Südosten Zentralrußlands, wo die Sowjets, sofern es sie schon gab, von den «rechten» Sozialrevolutionären kontrolliert wurden.
Lenin hatte einen bewaffneten Aufstand propagiert, aber was im November 1917 geschah, verdient kaum diesen Namen. Wie im März vollzog sich in Rußland ein Zusammenbruch der bisherigen Ordnung. Es war nicht mehr die alte Ordnung des Zarenregimes, sondern eine schwache republikanische Übergangsordnung, die die revolutionären Kräfte mit geringem Aufwand und ohne die Mobilisierung großer Menschenmassen zu Fall brachten. Die Provisorische Regierung hatte die Lösung der drängendsten innenpolitischen Probleme, obenan der Agrarfrage, vor sich her geschoben und nicht nur keine Anstalten getroffen, den Krieg zu beenden, sondern Ende Juni die «Kerenskij-Offensive» angeordnet, die kläglich scheiterte und Rußland Mitte Juli an den Rand des militärischen Zusammenbruchs brachte. Den Kornilow-Putsch im September überlebte die Regierung Kerenskij nur mit Hilfe der revolutionären Arbeiter und nicht zuletzt der Bolschewiki, die um dieselbe Zeit im Petrograder wie im Moskauer Sowjet die Mehrheit der Deputierten hinter sich brachten. Das großstädtische Proletariat zunehmend auf der Seite der Bolschewiki, die Bauern in wachsender Zahl entschlossen, die Agrarfrage autonom, durch illegale Landbesetzungen, zu lösen, die Soldaten nicht mehr bereit, den Befehlen ihrer Vorgesetzten zu folgen: Die Provisorische Regierung besaß im November 1917 kaum noch Rückhalt in der Bevölkerung. Die Bolschewiki ergriffen die Macht in einer Situation, auf die sich ohne große Übertreibung der Begriff «Machtvakuum» anwenden läßt.
An der Macht zu bleiben war sehr viel schwieriger als sie zu ergreifen. Lenin war überzeugt, daß das Proletariat im rückständigen Rußlandsich nur durchsetzen konnte, wenn es in Mittel- und Westeuropa zu Anschlußrevolutionen kam. Deshalb appellierte er am 8. November 1917 vor dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongreß an die «klassenbewußten Arbeiter der drei fortgeschrittensten Nationen der Menschheit und der größten am gegenwärtigen Krieg beteiligten Staaten», nämlich Englands, Frankreichs und Deutschlands, die ihnen gestellte Aufgabe der «Befreiung der Menschheit vom Schrecken des Krieges und seinen Folgen» zu erkennen, den russischen Arbeitern entschieden und energisch zu Hilfe zu kommen und so «die Sache des Friedens und zugleich damit die Sache der Befreiung der Werktätigen und ausgebeuteten Volksmassen von Sklaverei und jeder Ausbeutung erfolgreich zu Ende zu führen». Von der russischen über die mittel- und westeuropäische zur Weltrevolution des Proletariats: so sollte der Prozeß weitergehen, der im Frühjahr 1917 in Petrograd begonnen hatte.
Die Oktoberrevolution war, so gesehen, die logische Fortsetzung der Februarrevolution – die zweite, entscheidende Phase der russischen Revolution, in der die radikalen Kräfte vollendeten, was unter der Vorherrschaft der gemäßigten nur scheitern konnte: die Befreiung des Volkes. Verbündete hofften die Bolschewiki nicht nur im Proletariat der anderen kriegführenden Mächte, sondern auch unter den nichtrussischen Nationalitäten des ehemaligen Zarenreiches zu finden. Am 15. November beschloß der Rat der Volkskommissare eine Deklaration über die Rechte der Völker Rußlands, die das Recht auf selbständige Staatsbildung und damit auf Sezession und Souveränität verkündete. Die Verlautbarung entsprach einer Resolution der «Aprilkonferenz» der Bolschewiki und der Position, die Lenin 1914 in seiner Schrift «Über das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung» bezogen hatte. Daraufhin erklärte eine Woche später Georgien seine Unabhängigkeit; am 28. November tat der Estnische Volkstag denselben Schritt. Wie sich ein unabhängiges Georgien und Estland dem neuen, von den Bolschewiki geführten Rußland gegenüber verhalten würden, blieb fürs erste offen.
Hoch umstritten war diese Frage auch in Finnland, das bis zum Sturz des Zarenregimes ein Großfürstentum unter russischer Oberhoheit gebildet hatte und völkerrechtlich
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