Geschichte des Westens
Lebenshaltung der Arbeiterschaft zu heben. «Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion wird unter Wahrung der Lebensinteressen der arbeitenden Massen für die Sicherung der parlamentarischen Grundlage und für die Lösung der dringendsten finanzpolitischen Aufgaben eintreten.»
Die Reichstagsdebatten vom 17. und 18. Oktober 1930 waren die stürmischsten, die die Weimarer Republik bisher erlebt hatte. Am Ausgang der Abstimmungen aber gab es keinen Zweifel: Am 18. Oktober stimmte der Reichstag mit den Stimmen der SPD erst dem von der Regierung vorgelegten Gesetz über die Schuldtilgung zu, dann der Überweisung der Anträge auf Aufhebung der Notverordnung vom 26. Juli an den Haushaltsausschuß und einem Antrag der Regierungsfraktionen, über alle Mißtrauensanträge zur Tagesordnung überzugehen. Anschließend vertagte sich der Reichstag unter den wütenden Protesten von Nationalsozialisten und Kommunisten bis zum 3. Dezember. Die Regierung hatte nicht nur eine Schlacht gewonnen, sondern, was ebenso wichtig war, Zeit.
Mit Hilfe der SPD überstand das Kabinett Brüning auch die ähnlich turbulente Dezembersession des Reichstags. Der Preis, den die Regierung dafür bezahlen mußte, waren gewisse soziale Zugeständnisse: Die Bürgersteuer wurde schärfer gestaffelt und den Erwerbslosen Gebührenfreiheit bei der Krankenversicherung gewährt. Dafür übernahm die SPD die Mitverantwortung für die Erhöhung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 4,5 auf 6,5 Prozent, eine sechsprozentige Senkung der Beamtengehälter und neue Maßnahmen zum Schutz der Landwirtschaft, darunter höhere Zölle für Weizen und Gerste. Am 7. Dezember vertagte sich der Reichstag bis zum 3. Februar 1931.
Das sozialdemokratische Parteiorgan sah das Hohe Haus gern in die Ferien ziehen. Drei Monate nach der Neuwahl, hieß es am 13. Dezember im «Vorwärts», seien wohl aller einer Meinung darüber, «daß dieser Reichstag eine Mißgeburt ist und man froh sein kann, wenn man von ihm nichts hört und sieht». Der Vorsitzende der preußischen Landtagsfraktion, Ernst Heilmann, der auch ein Reichstagsmandat innehatte, meinte, ein Reichstag mit 107 Nationalsozialisten und 77 Kommunisten könne in Wirklichkeit nicht effektiv arbeiten. «Ein Volk, das einen solchen Reichstag wählt, verzichtet damit effektiv auf die Selbstregierung. Und sein Gesetzgebungsrecht wird automatisch durch Art. 48 ersetzt.» Otto Braun vertrat am 17. Dezember in einem Rundfunkvortrag die Ansicht, wenn das Parlament, zum Teil infolge seiner Durchsetzung mit antiparlamentarischen Gruppen, nicht willens und nicht fähig sei, seine verfassungsmäßigen Aufgaben zu erfüllen, «dann, aber auch nur dann muß das politische SOS-Notzeichen gegeben werden, dann muß das Notventil der Verfassung für so lange Zeit geöffnet werden, bis der akute Notstand beseitigt ist, den das Parlament nicht meistern konnte oder nicht meistern wollte.» Der «Vorwärts» veröffentlichte den Vortrag Brauns unter der Überschrift «Erziehung zur Demokratie».
Als die Sozialdemokraten Ende Mai 1931 in Leipzig zu ihrem ersten Parteitag nach dem Abschied von der Regierungsmacht zusammenkamen, gab es zwar viel Kritik des linken Flügels an der Tolerierungspolitik, aber noch mehr Beifall für das Hauptargument ihrer Verteidiger. «Der Nationalsozialismus ist durch uns von der Regierungsmacht zurückgehalten worden», erklärte Wilhelm Sollmann, der stellvertretende Vorsitzende der Reichstagsfraktion, «und wenn es im Oktober 1930 gelungen ist, die Auslieferung der Reichswehr und derSchupo (Schutzpolizei, H. A. W.) an die Nationalsozialisten zu verhindern, dann glaube ich, sollte keine Kritik im einzelnen uns an der Feststellung hindern: das ist nicht nur ein großer, das ist ein europäischer Erfolg der deutschen Sozialdemokratie.»
So wie die Kräfteverhältnisse seit den Septemberwahlen von 1930 lagen, gab es für die SPD tatsächlich keine verantwortbare Alternative zur Tolerierung der Regierung Brüning. Doch diese Politik hatte eine Kehrseite, die sich im Frühjahr 1931 nicht mehr übersehen ließ. Die Tatsache, daß der Reichstag nur noch selten zu Sitzungen zusammentrat (am 26. März hatte er sich bis zum 13. Oktober vertagt) gab den antiparlamentarischen Kräften der äußersten Rechten und Linken Auftrieb und niemand wußte diese Chance so geschickt zu nutzen wie Hitler. Er konnte nunmehr an beides gleichzeitig appellieren: einmal an das verbreitete Ressentiment gegenüber der
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