Geschichte des Westens
westlichen und damit «undeutschen» parlamentarischen Demokratie von 1919, die seit dem Herbst 1930 zu einer bloßen Attrappe geworden war, zum anderen an den seit Bismarcks Zeiten verbrieften, durch das Präsidialkabinett Brüning aber weitgehend um seine Wirkung gebrachten politischen Teilhabeanspruch des Volkes in Gestalt des allgemeinen gleichen Wahlrechts. Hitler wurde also zu einem Nutznießer der ungleichzeitigen Demokratisierung Deutschlands: der frühen Einführung eines demokratischen Wahlrechts und des späten Übergangs zu einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung. Und nicht nur das: Seit die Sozialdemokraten die unpopuläre Sparpolitik Brünings tolerierten, konnte der Führer der Nationalsozialisten seine Partei als die einzige volkstümliche Oppositionsbewegung rechts von den Kommunisten und zugleich als Alternative zum «Marxismus», sowohl in seiner bolschewistischen als auch in seiner reformistischen Spielart, ausgeben.
Am 5. Juni 1931 – dem Tag, an dem der Leipziger Parteitag der SPD zu Ende ging – erließ Reichspräsident von Hindenburg eine seit längerem erwartete neue Notverordnung. Ihre sozialen Härten übertrafen die schlimmsten Erwartungen: Die Unterstützungssätze in der Arbeitslosenversicherung wurden um durchschnittlich 10 bis 12 Prozent gesenkt; die Beamten und öffentlichen Angestellten mußten Gehaltskürzungen hinnehmen, die sich zwischen 4 und 8 Prozent bewegten; Invaliden und Kriegsversehrte erhielten niedrigere Renten. In den allgemeinen Aufschrei stimmten auch die Sozialdemokraten ein. Ihre Forderung, den Reichstag oder zumindest den Haushaltsausschußeinzuberufen, lehnte Brüning, der das Reich am Rande der Zahlungsunfähigkeit, ja des Bürgerkriegs sah, entschieden ab. Alles, was er den Sozialdemokraten in Aussicht stellte, war die Milderung mancher sozialer Härten in den Ausführungsbestimmungen zur Notverordnung. Um die SPD zum Einlenken zu bewegen, drohte der Kanzler mit der Aufkündigung der Preußenkoalition – und das wirkte. Am 16. Juni zogen die Vertreter der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion im Ältestenrat den Antrag auf Einberufung des Haushaltsausschusses zurück.
Der linke Parteiflügel rebellierte daraufhin und veröffentlichte am 1. Juli einen «Mahnruf» wider die Fortsetzung der Tolerierungspolitik, der zur Keimzelle einer neuen Gruppierung, der Anfang Oktober gegründeten Sozialistischen Arbeiterpartei, werden sollte. Die Mehrheit der SPD aber war nicht bereit, mit Brüning zu brechen und auf die Macht in Preußen zu verzichten. Rudolf Hilferding sprach im Juliheft der «Gesellschaft» von einer «tragischen Situation» seiner Partei. Begründet sei diese Tragik in dem Zusammentreffen der schweren Wirtschaftskrise mit dem politischen Ausnahmezustand, den die Wahlen vom 14. September geschaffen hätten. «Der Reichstag ist ein Parlament gegen den Parlamentarismus, seine Existenz eine Gefahr für die Demokratie, für die Arbeiterschaft, für die Außenpolitik … Die Demokratie zu behaupten gegen eine Mehrheit, die die Demokratie verwirft, und das mit den politischen Mitteln einer demokratischen Verfassung, die das Funktionieren des Parlamentarismus voraussetzt, es ist fast die Lösung der Quadratur des Kreises, die da der Sozialdemokratie als Aufgabe gestellt wird – eine wirklich noch nicht dagewesene Situation.»
Erst im Verlauf des Jahres 1931 begann sich in Deutschland die Einsicht durchzusetzen, daß der Tiefpunkt der wirtschaftlichen Krise noch längst nicht erreicht war und die Welt sich inmitten einer «Großen Depression» befand. Am 20. Juni gab es nochmals so etwas wie einen Hoffnungsschimmer: Der amerikanische Präsident Hoover regte ein internationales «Schuldenfeierjahr», eine befristete Unterbrechung der Zahlungen von staatlichen Zwangsschulden, darunter der deutschen Reparationen, an, und am 6. Juli trat, nachdem die USA französische Widerstände überwunden hatten, das «Hoover-Moratorium» vorläufig, vorbehaltlich der Bestätigung durch den amerikanischen Senat, in Kraft. Doch schon wenige Tage später wurde Deutschland von einerschweren Bankenkrise erschüttert. Ihre unmittelbare Ursache war der Zusammenbruch der Darmstädter und Nationalbank, der «Danatbank», am 13. Juli, ihre langanhaltende Folge eine weitere tiefe Erschütterung des Vertrauens in Kapitalismus und Marktwirtschaft. Der Devisenverkehr wurde auf Beschluß von Reichsregierung und Reichsbank am 15. Juli rigoros beschränkt, was nichts
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