Geschichte des Westens
das größte aller Übel sah, um jeden Preis zu vermeiden. Dieser Überzeugung war sie schon bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 und in der Revolution von 1918/19 gefolgt. An diesem Credo hielt sie fest, als es außer ihr und dem Zentrum kaum noch überzeugte Verteidiger der WeimarerReichsverfassung gab und die demokratischen Parteien zusammen nur noch eine Minderheit des Volkes hinter sich wußten.
Mit der Absetzung der Regierung Braun endete ein ungewöhnliches Kapitel der preußischen Geschichte. Aus dem Staat der Hohenzollern war nach 1918 die zuverlässigste Stütze der Republik unter allen deutschen Ländern geworden. Das alte Preußen war nicht von der Bildfläche verschwunden, aber die Szene beherrschten bis zum Frühjahr 1932 die drei Weimarer Koalitionsparteien. Unmittelbar nach dem «Preußenschlag» begann die große Säuberung. Staatssekretäre und Ministerialdirektoren, Ober-, Regierungs- und Polizeipräsidenten, die den bisherigen Koalitionsparteien angehörten, wurden in den einstweiligen Ruhestand versetzt und durch konservative Beamte, häufig Deutschnationale, ersetzt. Von den vier sozialdemokratischen Oberpräsidenten blieb nur einer übrig: Gustav Noske, der Mann an der Spitze der Provinzialverwaltung von Hannover. Der ehemalige sozialdemokratische Volksbeauftragte und Reichswehrminister stand nach Meinung der Reichsregierung so weit rechts von seiner Partei, daß er sein seit Juli 1920 ausgeübtes Amt behalten konnte.
Die Hoffnung der Sozialdemokraten, der Regierung von Papen bei der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 die Antwort auf den «Preußenschlag» geben zu können, ging nicht in Erfüllung. Das Wahlergebnis war, auf den ersten Blick jedenfalls, ein triumphaler Erfolg Hitlers. Bei einer Wahlbeteiligung von 84,1 Prozent, der höchsten seit 1920, entfielen 37,4 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen auf die NSDAP. Das war ein Zuwachs von 19,1 Prozentpunkten gegenüber der vorangegangenen Reichstagswahl vom 14. September 1930. Die Zahl der nationalsozialistischen Mandate stieg von 107 auf 230. Sehr viel bescheidenere Gewinne verbuchten die Kommunisten, die von 13,1 auf 14,3 Prozent kletterten. Zuwächse erzielten auch die beiden katholischen Parteien: Das Zentrum verbesserte sich von 11,8 auf 12,5, die Bayerische Volkspartei von 3 auf 3,2 Prozent. Alle anderen Parteien gehörten zu den Verlierern. Die SPD sank von 24,5 auf 21,6, die DNVP von 7 auf 5,9, die DVP von 4,5 auf 1,2 und die Deutsche Staatspartei von 3,8 auf 1 Prozent. Die übrigen Parteien kamen zusammen auf 2,5 Prozent.
Den Nationalsozialisten war es gelungen, die Parteien der liberalen Mitte und der gemäßigten Rechten sowie die Splitterparteien zu beerben und zahlreiche Erst- und Nichtwähler zu sich herüberzuziehen.Der Norden und der Osten Deutschlands waren sehr viel stärker «braun» eingefärbt als der Süden und der Westen; aber auch in Hessen, Franken, der Pfalz und im nördlichen Württemberg hatte die NSDAP alle anderen Parteien überrundet. Nationalsozialistischer «Spitzenreiter» unter den 35 Wahlkreisen war Schleswig-Holstein, wo 51 Prozent der Stimmen auf die NSDAP entfielen.
Vergleichsweise immun gegenüber den Parolen des Nationalsozialismus waren, wie schon 1930, das katholische Milieu und, in geringerem Maß, das in sich gespaltene «marxistische» Lager. In der bürgerlich-protestantischen Wählerschaft hatte nur das konservative Milieu einen Rest an Eigenständigkeit gegenüber der NSDAP behauptet. Der Liberalismus war nahezu ausradiert: Er konnte sich auf kein festgefügtes Milieu stützen und war so stark vom Nationalismus geprägt, daß seine Wähler eben dadurch für die Versprechungen der Nationalsozialisten anfällig wurden. Die NSDAP war zu
der
großen Protestpartei gegen das «System» geworden, der sich anschloß, wen nicht starke Überzeugungen von diesem Schritt abhielten. Daß die Partei Hitlers ihren Wählern höchst Widersprüchliches versprach, wurde von diesen kaum bemerkt. Was zählte, war die Hoffnung, daß es Deutschland und den Deutschen nach einer «nationalen Revolution» besser gehen würde als in der Gegenwart.
Eine parlamentarische Mehrheit aber war nach dem 31. Juli nicht in Sicht. Es gab eine negative Mehrheit der beiden totalitären Parteien, der Nationalsozialisten und der Kommunisten, die zusammen auf 51,7 Prozent der Stimmen und im Reichstag auf 319 von insgesamt 608 Mandaten kamen. Zählte man die Sitze der Parteien der Rechten, also der
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