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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Reichspräsidenten berühren durften. Reichstag und Reichsrat hatten fortan keinen Anspruch mehr darauf, an der Gesetzgebung beteiligt zu werden. Das galt ausdrücklich auch für Verträge mit fremden Staaten. Für das Inkrafttreten der von der Reichsregierung beschlossenen Gesetze genügten nunmehr die Ausfertigung durch den Reichskanzler und die Verkündung im Reichsgesetzblatt.
    Um die notwendige verfassungsändernde Mehrheit sicherzustellen, brach die Reichsregierung bereits vor der Verabschiedung des Gesetzes die Verfassung. Sie behandelte die kommunistischen Mandate als nicht existent, wodurch sich die «gesetzliche Mitgliederzahl» des Reichstags um 81 verminderte. Sodann änderte der Reichstag am 23. März seine Geschäftsordnung: Unentschuldigt fehlende Abgeordnete durften vom Reichstagspräsidenten bis zu sechzig Sitzungstagen von den Verhandlungen ausgeschlossen werden; die ausgeschlossenen Abgeordneten galten dennoch als «anwesend». Die SPD hätte also, selbst wenn sie geschlossen der Sitzung ferngeblieben wäre, nicht die beiden Voraussetzungen einer Verfassungsänderung verhindern können: Zwei Drittel der Anwesenden mußten zustimmen.
    Die Zustimmung des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei gewann Hitler dadurch, daß er einige Formulierungen des Zentrumsvorsitzenden, des Prälaten Kaas, zum Verhältnis von Staat und Kirche in seine Regierungserklärung aufnahm und den Unterhändlern der katholischen Partei zusätzliche Versprechungen machte (auf deren schriftliche Bestätigung das Zentrum am 23. März dann vergeblich wartete). Das ablehnende Votum der 93 anwesenden Sozialdemokratenwar einkalkuliert. Zur Begründung des Nein hielt der Parteivorsitzende Otto Wels eine Rede, mit der er die Ehre nicht nur der SPD, sondern der deutschen Demokratie rettete. «Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht»: So lautet der berühmte Satz, der sich inzwischen in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegraben hat. Die Abgeordneten der kleineren bürgerlichen Parteien, darunter auch die der Deutschen Staatspartei, stimmten der Vorlage zu. Mit 444 Ja- gegen 94 Nein-Stimmen wurde die verfassungsändernde Mehrheit bequem erreicht. Es hätte nicht einmal der verfassungswidrigen Manipulation der gesetzlichen Mitgliederzahl bedurft, um diese Hürde zu nehmen.
    Das Ja der bürgerlichen Parteien war das Ergebnis von Täuschung, Selbsttäuschung und Erpressung. Aus ihrer Sicht war die von der Mehrheit gewünschte «legale» Diktatur immer noch ein kleineres Übel als die illegale Diktatur, die bei Ablehnung des Gesetzentwurfs drohte. Der Schein der Legalität förderte den Schein der Legitimität und sicherte dem Regime die Loyalität der Mehrheit, darunter, was besonders wichtig war, der Beamten. Die Loyalitätstaktik, eine wesentliche Vorbedingung der Machtübertragung an Hitler, hatte ihren Zweck am 30. Januar 1933 noch nicht zur Gänze erfüllt. Sie bewährte sich ein weiteres Mal am 23. März 1933, als sie zur faktischen Abschaffung der Weimarer Reichsverfassung herangezogen wurde. Hitler konnte fortan die Ausschaltung des Reichstags als Erfüllung eines Auftrags erscheinen lassen, der ihm vom Reichstag selbst erteilt worden war.
    Die erste große Aktion des Regimes nach dem Ermächtigungsgesetz war der Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933. Die nationalsozialistische Führung wollte damit zum einen ein Ventil für den Druck von «unten», aus den Reihen der eignen Anhänger, öffnen, zum anderen auf die scharfe Kritik reagieren, die jüdische Organisationen sowie liberale und sozialistische Zeitungen in aller Welt an den deutschen Märzpogromen übten. Mit der Leitung der Aktionen gegen die «Weltgreuelhetze» wurde Julius Streicher, der fränkische Gauleiter der NSDAP und Herausgeber des antisemitischen Kampfblattes «Der Stürmer», beauftragt. Eigentlicher Regisseur aber war der Berliner Gauleiter Joseph Goebbels, der am 14. März an die Spitze des neuen Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda getreten war. Mit dem Ablauf des eintägigen reichsweiten Boykotts war Goebbelszufrieden. «Das Ausland kommt allmählich zur Vernunft», schrieb er unter dem Datum des 2. April in sein Tagebuch. «Die Welt wird einsehen lernen, daß es nicht gut tut, sich von den jüdischen Emigranten über Deutschland aufklären zu lassen.» Die Warnung an die deutschen Juden war unüberhörbar. Die Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben schwebte fortan wie ein Damoklesschwert über

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