Geschichte des Westens
ihnen. Das Regime behielt sich vor, über Zeitpunkt und Reichweite der nächsten Schritte gegen den wirtschaftlichen Einfluß des Judentums zu bestimmen: Das war die Botschaft des 1. April 1933.
Der Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft ging ihre Verdrängung aus dem öffentlichen Dienst voraus. Am 7. April 1933 erließ die Reichsregierung das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Es richtete sich gegen alle Beamten, die den regierenden Nationalsozialisten als nicht zuverlässig galten: gegen sogenannte «Parteibuchbeamte» der Weimarer Republik und namentlich solche, die einer Linkspartei angehört oder nahegestanden hatten, aber auch gegen die «nichtarischen» Beamten. Sie waren in den Ruhestand zu versetzen, soweit sie nicht Frontkämpfer, Väter oder Söhne von Kriegsgefallenen oder schon vor dem 1. August 1914 verbeamtet gewesen waren. Die Ausnahmeregelungen gingen auf den Reichspräsidenten von Hindenburg zurück, der seinerseits vom Reichsbund jüdischer Frontsoldaten um einen entsprechenden Vorstoß bei Hitler gebeten worden war.
Das Gesetz vom 7. April 1933 beendete die Phase der «wilden Säuberungen» des öffentlichen Dienstes und leitete eine «geordnete» und umfassende Säuberung von Staats wegen ein. Zu den Betroffenen gehörten Hunderte von Hochschullehrern. Die Berliner und die Frankfurter Universität verloren fast ein Drittel ihres Lehrkörpers, Heidelberg ein Viertel und Breslau mehr als ein Fünftel. Unter denen, die aus dem Amt gedrängt wurden, waren mehrere Nobelpreisträger, darunter die Physiker Albert Einstein und Gustav Hertz und der Chemiker Fritz Haber. Ihre Stellung verloren, aus rassischen oder politischen Gründen oder weil beides zusammentraf, die Philosophen Theodor Adorno, Max Horkheimer und Helmuth Plessner, die Juristen Hermann Heller, Hans Kelsen und Hugo Sinzheimer, die Soziologen Karl Mannheim und Emil Lederer, die Wirtschaftswissenschaftler Moritz Julius Bonn und Wilhelm Röpke, der Psychologe Erich Fromm, der evangelische Theologe Paul Tillich und zahlreiche andere. Die meisten Entlassenen emigrierten; ganze Forschungsstätten wie das Frankfurter Institut fürSozialforschung und Fachrichtungen wie die Psychoanalyse Freudscher Prägung wurden ausgelöscht.
Zur Säuberung des Lehrkörpers kam die der Studentenschaft. Am 28. April wurde im Zuge eines allgemeinen Numerus clausus der Anteil der «nichtarischen» Studenten in etwa dem jüdischen Anteil an der Bevölkerung angepaßt und auf 1,5 Prozent gedrückt. Studenten, die der KPD angehört oder mit ihr sympathisiert hatten, mußten ihr Studium abbrechen. Mißliebige Rektoren wurden durch neue ersetzt, die dem Regime freundlich gegenüberstanden. In Freiburg wurde am 20. April 1933, dem 44. Geburtstag Hitlers, Martin Heidegger zum Rektor gewählt. Am 1. Mai (dem gleichen Tag, an dem der Staatsrechtler Carl Schmitt denselben Schritt tat) trat er der NSDAP bei. Am 27. Mai schwor Heidegger Lehrende und Lernende in seiner Rektoratsrede auf den Dreiklang der Bindungen von Arbeitsdienst, Wehrdienst und Wissensdienst ein.
Der Kampf gegen alles, was die Nationalsozialisten als «undeutsch», «dekadent» und «zersetzend» empfanden, richtete sich gegen Lebende und Tote. Am 10. Mai 1933 fanden in den deutschen Haupt- und Universitätsstädten öffentliche Bücherverbrennungen statt. Mitglieder des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes warfen Schriften linker, pazifistischer, liberaler und jüdischer Autoren in die Flammen, darunter Werke von Heinrich Heine, Karl Marx, Karl Kautsky, Sigmund Freud, Alfred Kerr, Heinrich Mann, Erich Kästner, Lion Feuchtwanger, Erich Maria Remarque, Arnold Zweig, Theodor Wolff, Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky. Die meisten lebenden Opfer der Aktion hatten Deutschland bereits verlassen; einer, Carl von Ossietzky, war am 28. Februar verhaftet worden; ein anderer, Erich Kästner, wohnte in Berlin unerkannt der nächtlichen Zeremonie auf dem Platz vor der Friedrich-Wilhelms-Universität bei.
Der Bücherverbrennung folgten Kampagnen gegen alle Formen «entarteter Kunst» in Literatur und Musik, Malerei und Architektur. Rundfunk, Film, Theater und Presse wurden 1933 binnen weniger Monate gesäubert und gleichgeschaltet, wobei das Regime bei den Zeitungen einen gewissen Sinn für Nuancen zeigte. Daß ein international angesehenes Blatt wie die «Frankfurter Zeitung» einen sachlicheren Stil pflegte als der «Völkische Beobachter», ja
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