Geschichte des Westens
manchen jungkonservativen Autoren erschien der «Führer» als nationaler Messias, als Werkzeug der Geschichte und als kommender Träger einer nationalen Diktatur. Wenn Hitler sich als «Führer» feiern ließ, setzte er auf einen weit verbreiteten Überdruß am «System» von Weimar und eine Erlösungssehnsucht, der andere den Boden bereitet hatten. Aber nur ein Charismatiker wie er konnte den Eindruck hervorrufen, daß allein er berufen war, die Rolle des Retters aus aller Not zu übernehmen. Ohne diese Fähigkeit wäre er nicht in der Lage gewesen, Reichskanzler zu werden und dieses Amt zwölf Jahre lang zu behaupten.[ 2 ]
Der Reichstagswahlkampf im Zeichen der «nationalen Erhebung» war der erste, bei dem die NSDAP von der Gesamtheit der Großindustrie und der Großbanken (und nicht nur wie zuvor von einigen Konzernherren wie Fritz Thyssen und Friedrich Flick oder den leitenden Direktoren der IG Farben) finanziell großzügig unterstützt wurde. Neu war auch, daß sich die Nationalsozialisten bei ihrer Agitation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bedienen konnten. Überschattet wurde der Wahlkampf von zahllosen Terrorakten der SA, denen vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten zum Opfer fielen. Am 17. Februar forderte Hermann Göring, der kommissarische preußische Innenminister, die Polizeibeamten auf, im Zweifelsfall rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Fünf Tage danach setzte er SA, SS und Stahlhelm als freiwillige Hilfspolizei ein, um die angeblich zunehmende Gewalt von links wirksamer als bisher bekämpfen zu können. Abermals fünf Tage später, am 27. Februar, ging das Reichstagsgebäude in Flammen auf.
Hitler, Göring und Goebbels erklärten sofort, ohne irgendeinen Beweis für ihre Unterstellung beibringen zu können, die Urheber des Verbrechens seien die Kommunisten, die damit ein «Fanal zum blutigen Aufruhr und zum Bürgerkrieg» hätten setzen wollen. Für die naheliegende Vermutung vieler Zeitgenossen und Nachlebender, die Nationalsozialisten selbst hätten den Brand gelegt, gibt es ebenfalls keinerlei Beweis. Nach der überwiegenden Meinung der Forschung war die Brandstiftung das alleinige Werk des am Tatort festgenommenen holländischen Anarchosyndikalisten Marinus van der Lubbe, der auf diese Weise seiner Abscheu vor Nationalsozialismus und Faschismus Ausdruck verleihen wollte.
Noch in der Nacht zum 28. Februar verabschiedete das Reichskabinett die «Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat», die die wichtigsten Grundrechte «bis auf weiteres» außer Kraft setzte, neue Handhaben zum Vorgehen gegen die Länder schuf und für eine Reihe von Terrordelikten, darunter Brandstiftung, die Todesstrafe einführte. Die Verordnung nach Artikel 48 der Reichsverfassung war nichts Geringeres als die Liquidation des Rechtsstaates in Deutschland. Zu den ersten Opfern des Willkürakts gehörten neben kommunistischen Funktionären bekannte Intellektuelle. In «Schutzhaft» genommen wurden noch am 28. Februar der Herausgeber der «Weltbühne», Carl von Ossietzky, die Schriftsteller Erich Mühsam und Ludwig Renn, der«rasende Reporter» Egon Erwin Kisch, der Sexualforscher Max Hodann und der Rechtsanwalt Hans Litten, ein bekannter Strafverteidiger. Am 3. März konnte die Polizei in einem Geheimquartier in Berlin-Charlottenburg den Vorsitzenden der KPD, Ernst Thälmann, und einige seiner engsten Mitarbeiter festnehmen.
Terror und Propaganda taten ihre Wirkung: Aus der Reichstagswahl vom 5. März 1933 ging die Regierung Hitler als Siegerin hervor. 51,9 Prozent entfielen auf die beiden Formationen, die das neue Kabinett trugen: Die NSDAP erzielte 43,9 Prozent, die Kampffront Schwarz-Weiß-Rot, ein Zusammenschluß von Deutschnationalen, Stahlhelm und parteimäßig nicht gebundenen konservativen Politikern, darunter Vizekanzler Franz von Papen, 8 Prozent. Die Kommunisten, von der Verfolgung durch die Nationalsozialisten härter betroffen als alle anderen Parteien, erlitten starke, die Sozialdemokraten vergleichsweise bescheidene Verluste (4,6 beziehungsweise 2,1 Prozentpunkte). Die beiden katholischen Parteien konnten sich dagegen gut behaupten: Auf das Zentrum entfielen 11,2, auf die Bayerische Volkspartei 2,7 Prozent. Die beiden liberalen Parteien blieben Splittergruppen: Die Deutsche Volkspartei verbuchte 1,1, die Deutsche Staatspartei 0,9 Prozent. Dramatisch war neben dem Stimmenzuwachs der NSDAP (sie stieg um 10,8 Prozentpunkte) die Zunahme der Wahlbeteiligung von
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