Geschichte des Westens
mit denen er in Stresa an einem Tisch gesessen hatte.
Ein Verzicht auf den Krieg gegen Abessinien kam für Mussolini nicht in Frage. Expansionistische Kräfte gab es ja nicht nur, wie der Historiker Hans Woller schreibt, in der faschistischen Partei, sonderndarüber hinaus in einer breiten, imperialistisch gesinnten Öffentlichkeit. «Mussolini hatte hier eine nationale Mission zu erfüllen, er wollte dabei aber nicht stehen bleiben, sondern diesen Auftrag mit einem weiteren nationalen Großanliegen verbinden: der Schaffung eines neuen Menschen, den er ganz nach seinen faschistischen Maßen formen wollte. Mussolini wollte sein Volk härter und unnachsichtiger mit sich und anderen Völkern machen, zu deren Beherrschung die Italiener angeblich berufen waren. Ohne Expansion, ohne Bewährung im Krieg wäre sein Regime in Stagnation versunken, es wäre Stückwerk und seine anthropologische Revolution nur ein Traum geblieben.»
Am 21. Mai 1935 tat Hitler seinerseits einen großen Schritt auf Mussolini zu. In einer Reichstagsrede bestritt er jede Absicht Deutschlands, sich in die inneren Angelegenheiten Österreichs einzumischen oder dieses zu annektieren. Er bedauerte ausdrücklich, daß durch den Konflikt mit Österreich eine Störung des früher so guten Verhältnisses zu Italien eingetreten sei, mit dem es sonst keinerlei Interessengegensätze gebe. Fünf Tage später erklärte der «Duce» einem deutschen Diplomaten, der am 2. Mai abgeschlossene französisch-sowjetische Beistandspakt habe einen völlig neuen Faktor in die internationale Politik hineingebracht und mache eine grundlegende Neuorientierung notwendig. Ende Mai vereinbarten Deutschland und Italien, die gegenseitigen Pressepolemiken einzustellen. Kurz darauf berief Mussolini den in Berlin seit längerem mißliebigen Botschafter Vittorio Cerruti ab und versetzte ihn nach Paris.
Hitler aber dachte gar nicht daran, Italien zu einem schnellen Erfolg in Abessinien zu verhelfen. Er wünschte zwar keine Niederlage des «Duce», wohl aber eine längere Kriegsdauer, um die Aufmerksamkeit der Westmächte von Deutschland und Mitteleuropa abzulenken. Im Juli 1935 reagierte er, nach Rücksprache mit Außenminister von Neurath, positiv auf eine Bitte des Negus Negesti, Kaiser Haile Selassie, um Militärhilfe: Äthiopien erhielt, streng geheim, für rund 3 Millionen Reichsmark auf Kreditbasis 10.000 Gewehre, 10 Millionen Patronen, Maschinengewehre, Handgranaten und etwa 70 Geschütze. In den folgenden Monaten versuchte Berlin den Eindruck hervorzurufen, es sei in der abessinischen Frage ein gänzlich unbeteiligter Beobachter.
Bei der ideologischen Kriegsvorbereitung griffen Mussolini und die faschistischen Propagandisten auf die alte von den italienischen Vorkriegsnationalisten eingeführte Gegenüberstellung von kapitalistischenund proletarischen Nationen zurück. Am 2. Oktober 1935, dem Tag vor dem Angriff auf Äthiopien, benutzte der «Duce» die Formel «Italia proletaria e fascista», um den Anspruch Italiens auf koloniale Expansion zu begründen. Der Krieg gegen das Kaiserreich Abessinien, ein Mitglied des Völkerbunds, begann ohne Kriegserklärung. Der Völkerbund verurteilte Italien als Aggressor, verhängte aber keine militärischen, sondern auf Drängen Frankreichs nur milde wirtschaftliche Sanktionen: Es gab kein Lieferverbot für Erdöl, Stahl und die wichtigsten Metalle. Das über Italien verhängte Waffen- und Rohstoffembargo und die Kreditsperre wurden überdies längst nicht von allen Ländern strikt befolgt. Von Deutschland, das am 7. November seine Neutralität erklärte und gleichzeitig ein Verbot der Ausfuhr von Rüstungsgütern an die kriegführenden Staaten verkündete, erhielt Italien Rohstofflieferungen in großem Stil, für die es freilich immense Mittel aufzubringen hatte.
Der Abessinienkrieg war ein an Völkermord grenzender rassistischer Vernichtungskrieg – der erste Krieg dieser Kategorie im 20. Jahrhundert und zugleich der größte Kolonialkrieg der bisherigen Geschichte. Dem Angriffskrieg und dem anschließenden Besatzungsregime fielen zwischen 1935 und 1941 zwischen 350.000 und 760.000 der rund 10 Millionen Abessinier zum Opfer. Der Krieg gegen die militärisch hoffnungslos unterlegenen Untertanen des Negus sah, wie der Schweizer Historiker Aram Mattioli feststellt, «den massivsten und brutalsten Luftwaffeneinsatz, den die Welt bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hatte. Von höchster Stelle dazu ermächtigt, flogen die
Weitere Kostenlose Bücher