Geschichte des Westens
und die ungarischen Revisionsbestrebungen von Jugoslawien ab- und auf die Tschechoslowakei hinzulenken. Die Römischen Protokolle vom März 1934 weckten in Berlin die Furcht vor einer Durchkreuzung der deutschen Südosteuropastrategie. Tatsächlich strebte Rom seit langem danach, Ungarn und Jugoslawien in immer stärkere Abhängigkeit von sich zu bringen.
Da Jugoslawien ein Mitglied der Kleinen Entente von 1920/21 und seit 1927 auch direkt mit Frankreich verbündet war, verfolgte Paris die italienische und mehr noch die deutsche Politik gegenüber Belgrad mit Argwohn. Der nationalsozialistische Putsch in Österreich und der immer größere Einfluß Deutschlands auf Jugoslawien führten dann im Herbst 1934 zu einer von Berlin nicht erwarteten Annäherung Roms an Paris. Sie wurde auf französischer Seite begünstigt durch die Sympathien, die Außenminister Pierre Laval für Mussolini und die italienischen Faschisten hegte. Beim «Duce» spielte der Wunsch nach kolonialer Expansion in Afrika eine entscheidende Rolle bei dem Versuch, Frankreich als Bundesgenossen zu gewinnen. Im Januar 1935 unterzeichneten Mussolini und Laval in Rom eine Reihe von Protokollen, die nach den Worten des Historikers Jens Petersen «den endgültigen Übertritt Italiens in das Lager der antirevisionistischen Mächte zu besiegeln schienen». Bei deutschen Verstößen gegen den Versailler Vertrag wollten beide Mächte die zu ergreifenden Gegenmaßnahmen miteinander abstimmen. Dasselbe galt für eine Bedrohung der österreichischen Unabhängigkeit.
Das Kernstück der Vereinbarungen aber bildete eine geheime Absprache über Nordostafrika: Frankreich gab Italien freie Hand gegenüber Abessinien, was die Anwendung militärischer Gewalt einschloß. Damit eröffnete sich für Rom die Chance, die «Schmach von Adua», die Niederlage, die abessinische Truppen den Italienern 1896 beigebracht hatten, endlich zu beseitigen – ein Ziel, auf das der «Duce» seit dem Frühsommer 1932 systematisch hingearbeitet hatte. Das imperialistische Projekt sollte Italien zu einer der führenden Kolonialmächte machen und ihm zum seit langen erstrebten Status eines «Reiches», des «Impero», verhelfen. Eine wirksamere Antwort auf den «verstümmelten Sieg» von 1918 und die niederdrückende Erfahrung der wirtschaftlichenDepression gab es aus der Sicht der italienischen Faschisten nicht.
Zur weiteren Annäherung Italiens an die Westmächte leistete erneut Hitler seinen Beitrag. Im März 1935 brach er gleich zweimal den Versailler Vertrag: Am 1. März verkündete Deutschland die Wiederaufstellung der Luftwaffe, zwei Wochen später, am 16. März, die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht. Auf die zweite Herausforderung reagierte die italienische Presse mit einem Aufschrei der Empörung; der «Duce» stimmte der französischen Forderung nach einer Gipfelkonferenz zu, auf der die Vertragsverletzungen Hitlers verurteilt werden sollten. Vom 11. bis 14. April fand dieses Treffen statt, und zwar auf italienischem Boden: in Stresa am Lago Maggiore. Die Ministerpräsidenten Großbritanniens, Frankreichs und Italiens, Ramsay MacDonald, Pierre-Étienne Flandin und Benito Mussolini, kamen überein, «sich mit allen geeigneten Mitteln jeder einseitigen Aufkündigung von Verträgen zu widersetzen, die den Frieden in Europa gefährden könnten», und «zu diesem Zweck in einiger und freundschaftlicher Zusammenarbeit» vorzugehen.
Zu den wenigen praktischen Folgen der Konferenz von Stresa gehörten Militärabsprachen zwischen Frankreich und Italien, die für die Fälle einer deutschen Aktion gegen Österreich und eines deutschen Angriffs auf Frankreich galten. Die «Stresafront» hielt aber nicht lange zusammen. Das Thema «Abessinien» war bei dem Treffen am Lago Maggiore nicht erörtert worden. Bald danach machte London deutlich, daß es schwerste Bedenken gegen die kriegerischen Absichten Italiens in Nordostafrika hatte. Das britische Widerstreben veranlaßte Mussolini, sich außenpolitisch neu zu orientieren: Er begann, sich auf Hitler zuzubewegen. Deutschland war inzwischen der weitaus wichtigste Handelspartner Italiens; das galt sowohl für den Bereich des Imports wie für den des Exports. Dazu kam die ideologische Nähe von italienischem Faschismus und deutschem Nationalsozialismus. Für die von ihm beabsichtigte aggressive Expansionspolitik konnte der «Duce» nördlich der Alpen sehr viel mehr Verständnis erhoffen als bei den beiden westlichen Demokratien,
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