Geschichte des Westens
Geschwader der Regia Aeronautica Tausende von Angriffen, bei denen sie Splitter-, Brand- und Gasbomben auf menschliche Ziele abwarfen. Vor Italien hatte nur Spanien in seinem Protektorat Nordmarokko Giftgas von Flugzeugen aus eingesetzt. Damit war Italien überhaupt erst der zweite Staat, der diese Massenvernichtungswaffe aus der Luft zur Anwendung brachte.» In globaler Perspektive bildete der Abessinienkrieg nach Mattiolis Urteil «die ‹Brücke› zwischen den Kolonialkriegen des imperialistischen Zeitalters und Hitlers Lebensraumkrieg».
Italien hatte im Juni 1925 in Genf das Protokoll über das Verbot von erstickenden giftigen und ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Krieg ratifiziert, das den Ersteinsatz von chemischen Kampfstoffen verbot. Dessen ungeachtet wurde seit Dezember 1935 unter dem Oberbefehl von Marschall Badoglio im abessinischenHochland systematisch Giftgas aus der Luft nicht nur gegen Soldaten, sondern immer wieder auch gegen die Zivilbevölkerung sowie zur Besprühung von Flüssen, Wasserstellen und Viehweiden eingesetzt. Gegen Angriffe aus der Luft waren auch Lazarette des Roten Kreuzes und Krankenhäuser nicht sicher. Flüchtende Soldaten und Zivilisten wurden aus der Luft mit Maschinengewehren niedergemäht. Die Äthiopier, die älteste Nation Afrikas, galten als unzivilisierte Wilde, gegen die auch Mittel angewandt werden durften, auf die man gegenüber Europäern nicht zurückgegriffen hätte. In voller Absicht bedienten sich die italienischen Militärs im Kampf gegen die christlichen Abessinier auf breiter Front auch muslimischer Hilfstruppen aus Eritrea und Libyen, die sich ihres Auftrags auf besonders grausame Art entledigten.
Der Giftgaseinsatz war die von «Duce» und vom italienischen Oberkommando angeordnete Reaktion auf den unerwartet hartnäckigen Widerstand der Äthiopier. Den italienischen Kriegskorrespondenten wurde verboten, darüber zu berichten. Die Proteste des Negus Negesti und der kaiserlichen Regierung in Addis Abeba gegen die systematische Verletzung des Völkerrechts verhallten ungehört. Um die Sanktionen wirksam werden zu lassen, hätte der Völkerbund sie auf Treibstoffe, vor allem auf Öl, ausdehnen müssen. Außerdem wäre es notwendig gewesen, den unter britischer Kontrolle stehenden Suezkanal für italienische Truppen- und Militärtransporte zu sperren, was aber beides nicht geschah. Zwar mußte der britische Außenminister Samuel Hoare am 18. Dezember 1935 zurücktreten, nachdem ein zwischen ihm und seinem französischen Kollegen Pierre Laval ausgehandeltes Vermittlungsangebot, das Mussolini weit entgegenkam, durch eine gezielte Indiskretion vorzeitig bekannt geworden war und einen Proteststurm in der britischen Presse hervorgerufen hatte. Aber zu einem energischen Vorgehen konnte sich Großbritannien auch unter Hoares Nachfolger Anthony Eden nicht entschließen. Am 5. Mai 1936 zogen die italienischen Truppen in Addis Abeba ein, was formell das Ende des Krieges, nicht jedoch das Ende des äthiopischen Widerstands gegen die Okkupanten bedeutete.
Wenige Wochen nach dem Fall seiner Hauptstadt, am 30. Juni 1936, hielt Kaiser Haile Selassie, von seinem Exil in Südengland kommend, als erstes Staatsoberhaupt eine Rede vor der Plenarversammlung des Völkerbunds in Genf. Es gebe keinen Präzedenzfall dafür,sagte der Negus Negesti, «daß ein Volk Opfer solcher Greueltaten wurde und Gefahr läuft, völlig seinem Aggressor preisgegeben zu werden. Noch hat es je zuvor ein Beispiel für eine Regierung gegeben, die durch barbarische Mittel zur systematischen Ausrottung einer Nation schritt, unter Bruch der feierlichen Versprechungen, die allen Nationen dieser Welt gemacht wurden, daß Eroberungskriege illegitim seien und daß die schreckliche Giftgaswaffe gegenüber unschuldigen Menschen nicht angewendet werden dürfe.»
Der Appell des vertriebenen afrikanischen Herrschers an das Weltgewissen war vergeblich. Der Völkerbund hatte sich während des Abessinienkrieges um seine verbliebene moralische Autorität gebracht; folgerichtig hob er am 4. Juli 1936 die gegen Italien verhängten Sanktionen vollständig auf. Die meisten Staaten zögerten danach nicht lange mit der Anerkennung der Eroberung und Annexion Abessiniens durch das faschistische Italien. Die wenigen Ausnahmen waren die USA, die Sowjetunion, Mexiko, Neuseeland und Haiti. Das Urteil Aram Mattiolis trifft ins Schwarze: «Um des Friedens in Europa willen war das Kaiserreich Abessinien
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