Geschichte des Westens
erreichten. Die SdP gab sich um diese Zeit noch gemäßigt; Henlein hatte sich im Herbst 1934 vom Nationalsozialismus distanziert und jede Absicht einer Grenzrevision bestritten. Engere Verbindungen mit Berlin nahm die SdP erst nach ihrem großen Wahlerfolg auf. Ihre öffentlichen Forderungen zielten vor wie nach der Wahl auf die Autonomie, nicht auf die Abtretung der Sudetengebiete. In einem Vortrag, den er im Dezember 1935 im Londoner Chatham House hielt, griff Henlein den Panslawismus wie den Pangermanismus an und erklärte die Bildung reiner Nationalstaaten im Ostmitteleuropa für unmöglich.
Zwei Jahre später, am 19. November 1937, äußerte sich Henlein in einem «Bericht an den Führer und Reichskanzler über aktuelle Fragen der deutschen Politik in der Tschechoslowakischen Republik» schon ganz anders. Die SdP müsse «das Bekenntnis zum Nationalsozialismus als Weltanschauung und als politisches Prinzip tarnen»; als Partei in dem demokratisch-parlamentarischen System der Tschechoslowakei müsse sie sich der demokratischen Terminologie und demokratisch-parlamentarischer Methoden bedienen. Mittlerweile sei es aber «realpolitisch sinnlos geworden, für eine Autonomie des sudetendeutschenGebietes einzutreten, weil gerade dieses Gebiet zum Betonwall und Festungsgürtel des tschechoslowakischen Staates gemacht worden ist». Auf weiteren Vortragsreisen nach England, die Henlein im Juli 1936, im Oktober 1937 und Mai 1938 unternahm, bekamen seine britischen Gesprächspartner, darunter Winston Churchill, das Gegenteil zu hören: Er versicherte auf Ehrenwort, daß er keine Weisungen aus Berlin bekomme und eine Autonomielösung innerhalb der Tschechoslowakei anstrebe. Bei den meisten britischen Konservativen, wenn auch nicht bei Churchill, stieß seine Erklärung auf Verständnis und Zustimmung.
An der Regierung in Prag, die seit November 1935 von dem slowakischen Agrarier Milan Hodza geführt wurde, waren die «aktivistischen» deutschen Parteien, die Sozialdemokraten und der Bund der Landwirte, seit Juli 1936 auch die Christlich-Sozialen, beteiligt. Am 18. Februar 1937 versprach Hodza in einem Abkommen mit den genannten drei Parteien, die allerdings nur ein Drittel der Sudetendeutschen vertraten, eine Dezentralisierung im Sinne eines wirtschaftlichen und administrativen Regionalismus, lehnte aber eine Autonomie ausdrücklich ab. Außerdem sagte er den aktivistischen Parteien mehr Beamtenstellen für Deutsche und höhere staatliche Zuschüsse für Krisengebiete zu. Tatsächlich änderte sich an der tschechoslowakischen Politik nichts Wesentliches. Für Beneš und die meisten maßgeblichen Prager Politiker blieb die CSR der «Nationalstaat der tschechoslowakischen Nation», als der er Ende 1918 aus der Taufe gehoben worden war. Die ethnischen Minderheiten genossen in der Tschechoslowakei mehr politische Freiheit und mehr politischen Einfluß als in irgendeinem anderen der Staaten Ostmittel- und Südosteuropas, die 1918 neu- oder wiedererstanden waren. Aber für Nationalitäten neben der «tschechoslowakischen Nation» war im offiziellen Selbstverständnis der CSR kein Platz.
Zu den aktiven Gegnern dieser Staatsideologie gehörte neben der Sudetendeutschen Partei die klerikale Slowakische Volkspartei um den Pater Andrej Hlinka, mit dem Henlein im Februar 1938 Verbindung aufnahm. Ein Gespräch zwischen Henlein und Ministerpräsident Hodza im September 1937, in dem der Vorsitzende der SdP die sofortige Einführung der Selbstverwaltung für die deutschen Gebiete forderte, blieb folgenlos. Am 14. November 1937 kam es in Teplitz zu schweren Zusammenstößen zwischen Anhängern Henleins und der Polizei, wobei ein Abgeordneter der SdP, der eine besonders scharfmacherischeRede gehalten hatte, verhaftet wurde. Die Folge war eine weitere Verschlechterung im Verhältnis zwischen der Prager Regierung und der Mehrheit der Sudetendeutschen – eine Entwicklung, die in Berlin mit großer Genugtuung beobachtet wurde.
Die viertstärkste Partei der CSR, die KPC, stand seit jeher in scharfer Opposition zur Regierung. Da allen Kabinetten seit 1929 auch die dezidiert reformistischen Sozialdemokraten angehörten, war an ein Volksfrontbündnis in der Tschechoslowakei nicht ernsthaft zu denken. Der tschechoslowakisch-sowjetische Beistandspakt von 1935 und die neue Generallinie der Komintern zwangen aber auch Stalins Prager Gefolgsleute mit ihrem Generalsekretär Klement Gottwald an der Spitze zu gewissen taktischen
Weitere Kostenlose Bücher