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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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Ministerpräsidenten der Jahre 1931 bis 1939 sowie 15 Minister und 15 Wojewoden, also regionale Verwaltungschefs, entstammten der Armee, viele von ihnen im Rang eines Obersten. Marschall Pilsudski, der «starke Mann» des Regimes, blieb Kriegsminister und Generalinspekteur der Streitkräfte.
    Seit dem März 1931 arbeitete ein Sonderausschuß des Sejm an einer neuen, autoritären Verfassung, die der Diktatur einen festen Rechtsrahmen verschaffen sollte. Das Ergebnis war die «Aprilverfassung» von 1935. Sie war ganz auf Pilsudski als künftigen Staatspräsidenten zugeschnitten. Auf dem Staatsoberhaupt beruhte «die Verantwortung für das Schicksal des Staates vor Gott und der Geschichte»; in seiner Person war die «einheitliche und unteilbare Staatsgewalt zusammengefaßt»; er ernannte nach seinem Ermessen den Ministerpräsidenten, designierte seinen eigenen Nachfolger, war «Oberherr der Streitkräfte» und ernannte ein Drittel der Mitglieder des Senats. Unter seiner Oberhoheit standen die anderen Staatsorgane: die Regierung, der Sejm, der Senat, die Streitkräfte, die Gerichte und die «Staatskontrolle» in Gestalt eines Rechnungshofes, der Obersten Kontrollkammer. Der Staatspräsident wurde durch eine Wahlversammlung gewählt; ihre Mitglieder bestanden ihrerseits zum größten Teil aus den «würdigsten Bürgern», die zu zwei Dritteln vom Sejm und zu einem Drittel vom Senat ausgewählt wurden. Die Kandidaten für den Sejm wurden entsprechend einer gesondert verabschiedeten Wahlordnung nicht durch die politischen Parteien, sondern von örtlichen Wahlversammlungen ausgewählt, was dem Staatsapparat breiten Einfluß sicherte. Das Wahlalter wurde von 21 auf 24 Jahre heraufgesetzt.
    Pilsudski wäre durch die «Aprilverfassung» eine nahezu unbeschränkte Machtfülle zugewachsen, aber er erlebte die Wahl zum Staatspräsidenten nicht mehr. Der Marschall, seit langem schwerkrank, starb am 12. Mai 1935. Das Amt des Staatsoberhaupts blieb in den Händen des Pilsudski treu ergebenen Chemieprofessors Ignacy Moocicki, der seit Mai 1926 an der Spitze des Staates stand. Pilsudski wurde unter großem Gepränge auf der Königlichen Burg im Krakauer Wawel bestattet; an den Trauerfeierlichkeiten nahmen von deutscherSeite Hermann Göring, aus Frankreich Pierre Laval teil, die die Gelegenheit zu einem intensiven Gespräch nutzten. Noch mehr als der lebende wurde der tote Pilsudski zu einem polnischen Mythos. Die autoritäre Spätphase seiner Herrschaft trat in der kollektiven Erinnerung allmählich zurück hinter seinen Verdiensten als Feldherr, Staatsgründer und Staatsmann, der Polen 1926 vor dem wirtschaftlichen, finanziellen und politischen Niedergang bewahrt hatte.
    Die ersten Wahlen auf Grund der neuen Verfassung fanden im September 1935 bei schwacher Beteiligung statt: Nur 46,5 Prozent der Wahlberechtigten nahmen daran teil, wozu Boykottaufrufe der Linken einen erheblichen Beitrag geleistet hatten. Der 1928 geschaffene Regierungsblock BBWR (Parteiloser Block der Zusammenarbeit mit der Regierung des Marschalls Józef Pilsudski) erhielt eine Dreiviertelmehrheit, löste sich aber wenig später auf. An seine Stelle trat im März 1937 das straffer organisierte, von Oberst Adam Koc geführte Lager der Nationalen Vereinigung (OZN), das organisatorisch eine gewisse Ähnlichkeit mit der Staatspartei des faschistischen Italien aufwies, aber nie deren Dynamik entwickelte. Ins Zentrum der Propaganda der neuen Sammelpartei rückte Pilsudskis Nachfolger als Generalinspekteur der Streitkräfte, General Edward Rydz-Smigly, der als «Führer der Nation» gefeiert wurde, aber bei weitem nicht die Autorität und Popularität des Marschalls erreichte. Im Mai 1938 trat das OZN mit der Forderung auf, die Juden aus dem öffentlichen Leben zu verdrängen. Die Hoffnung, damit eine Volksbewegung zugunsten der Regierung auszulösen, erfüllte sich aber nicht: Das OZN blieb eine Honoratiorenvereinigung.
    Der Rechtsruck des Obristenregimes blieb nicht ohne Antwort von links. Die Sozialistische Partei Polens (PPS) hatte sich in den Jahren seit 1929 radikalisiert. Sie forderte 1935 eine entschädigungslose Bodenreform und nicht mehr die Wiederherstellung der parlamentarischen Demokratie, sondern die Diktatur des Proletariats. Ein Volksfrontbündnis mit der illegalen Kommunistischen Partei Polens (KPP) aber lehnte sie, von einem kurzen Zwischenspiel 1935/36 abgesehen, ab. Was die KPP sehr viel mehr schwächte, waren Stalins Säuberungen. Zwischen

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