Geschichte des Westens
ansässige Mittelstand aus jüdischen Handwerkern, Kaufleuten und anderen Kleingewerbetreibenden entfernt worden war, den die bisherigen Landbewohner ersetzen sollten.
Sehr viel leichter zu verwirklichen waren innerpolnische Maßnahmen wie die Einführung eines Numerus clausus für jüdische Studenten. Mit seiner Hilfe gelang es, den Anteil der jüdischen Studierenden, der 1928/29 noch bei etwas über 20 Prozent gelegen hatte, bis 1937/38 auf 10 Prozent herabzudrücken – ein Prozentsatz, der dem Bevölkerungsanteil der Juden entsprach. Flankiert wurde die offizielle Judenpolitik durch ein von antisemitischen Studenten gefordertes, von den Universitätsrektoren durchgesetztes «Sitzbankghetto» an den polnischen Hochschulen: Juden hatten auf besonderen Sitzreihen Platz zunehmen. Dazu kam die Einführung eines Arierparagraphen in vielen Berufsvereinigungen mit dem Zweck, die Juden aus den freien Berufen zu verdrängen.
Wirtschaftspolitisch hatte sich Polen bis 1935 orthodoxen Maximen verschrieben: der Aufrechterhaltung der Stabilität des Zloty, einem ausgeglichenen Haushalt und einer aktiven Handelsbilanz. Mitte der dreißiger Jahre schwenkte die Regierung in Richtung einer antizyklischen Konjunkturpolitik im Sinne von Keynes um, wobei die staatlichen Investitionen vor allem der Aufrüstung zugute kamen. Im Zuge eines 1936 beschlossenen Vierjahresprogramms sollten vor allem im südlichen Zentralpolen 100.000 neue Arbeitsplätze geschaffen und das krasse Gefälle zwischen den industrialisierten und den agrarischen Regionen allmählich eingeebnet werden.
Die wirtschaftliche Entwicklung Polens profitierte von der neuen Politik, wenngleich nur in bescheidenem Maß. 1938 wurde erstmals das Produktionsniveau der polnischen Fabrikindustrie von 1913 übertroffen: Es hatte, wenn man die Daten des letzten Vorkriegsjahres gleich 100 setzt, 1929 den Stand von 86 Prozent erreicht, war 1932 auf 52 gesunken und stieg bis 1938 auf 105 Prozent. Die Sozialstruktur freilich änderte sich in den Jahren zwischen den Kriegen nur geringfügig: Nimmt man 1921 als Indexjahr, sank der Anteil der Bauern an der erwerbstätigen Bevölkerung bis 1939 auf 94 Prozent, während die Anteile der Arbeiter auf 106, die des «Kleinbürgertums» auf 107 und der «Intelligenz» auf 112 Prozent anwuchsen. Borodziej gelangt auf Grund der statistischen Daten zu dem nüchternen Schluß, daß Polen zu den Staaten gehörte, «die in der Zwischenkriegszeit insgesamt keinen wirtschaftlichen Fortschritt verzeichnen konnten».
Außenpolitisch fühlte sich Polen nach dem Abschluß von Nichtangriffsverträgen mit seinen beiden potentiell gefährlichsten Nachbarn, zuerst im Juli 1932 mit der Sowjetunion, dann im Januar 1934 mit Deutschland, in einer komfortablen Situation: Pilsudski sprach im März 1934 im vertrauten Kreis von einer Situation, wie Polen sie noch nie gekannt habe. Der Marschall war aber nüchtern genug, den guten Beziehungen zu Deutschland nur eine Lebensdauer von vier Jahren vorherzusagen (abgeschlossen war der Vertrag auf zehn Jahre).
Außenminister Józef Beck, der seit November 1932 allen polnischen Kabinetten angehörte und als Vertreter einer betont deutschfreundlichen Richtung galt, honorierte den Vertrag mit Berlin dadurch,daß er die Rheinlandbesetzung im März 1936 nur verbal kritisierte, praktisch aber billigte. Den von Hitler gewünschten Beitritt Polens zum Antikominternpakt lehnte er ab, um Polen nicht in eine einseitige Frontstellung gegen die Sowjetunion (und indirekt gegen die Volksfrontregierung in Frankreich) und damit in Abhängigkeit von Deutschland zu bringen. Im November 1937 schloß Beck mit Deutschland einen bilateralen Minderheitenschutzvertrag, der zu einer weiteren «klimatischen» Verbesserung zwischen Berlin und Warschau führte. Die Verschlechterung im Verhältnis Deutschlands zur Tschechoslowakei kam Beck durchaus gelegen. Zwischen Polen und der CSR lag immer noch der Streit um das Gebiet von Teschen, das von einer alliierten Botschafterkonferenz im Juli 1920 in einer Weise geteilt worden war, die in Polen als unzumutbar empfunden wurde. Zerfiel die CSR unter deutschem Druck, mochte sich für Polen daraus die Chance ergeben, die Teschener Frage in seinem Sinn zu lösen.
Am 17. März 1938 gelang Beck ein spektakulärer Coup. Im Windschatten des deutschen Einmarsches in Österreich stellte er Litauen ein Ultimatum: Das Nachbarland sollte endlich diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen zu Polen
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