Geschichte des Westens
daß er bereit sei, die Rolle eines Mittelsmanns zu übernehmen und gegebenenfalls italienische Ansprüche im Mittelmeerraum an die Alliierten weiterzuleiten. Außerdem verbürgte er sich für die gleichberechtigte Teilnahme Italiens an einer Friedenskonferenz nach Ende des Krieges. Der Versuch schlug fehl: Am 28. Mai lehnte der «Duce» das Angebot ab.
Wäre es nach Reynaud und Lord Halifax gegangen, hätten sich Großbritannien und Frankreich auch direkt an Italien gewandt. Churchill aber entschied sich am 27. Mai nach einigem Schwanken endgültig gegen einen solchen Schritt. Die Zugeständnisse, die der französische Ministerpräsident befürwortete – neben einem großzügigen kolonialpolitischen Entgegenkommen in Afrika eine Neutralisierungdes Suezkanals und Gibraltars sowie eine Entmilitarisierung Maltas – erschienen dem Premierminister unvereinbar mit den Lebensinteressen des britischen Empires. Der «Duce» als Vermittler gegenüber dem «Führer»: Was einigen britischen und französischen Politikern offenbar vorschwebte, lief aus Churchills Sicht auf eine Bitte um Waffenstillstand hinaus – ein Ansinnen, dem er sich verweigern mußte. Damit lag die Position Großbritanniens fest: Sie blieb unnachgiebig.
Als am 4. Juni die «Operation Dynamo» abgeschlossen wurde und Dünkirchen in deutsche Hände fiel, befanden sich bereits 1,2 Millionen Soldaten – Franzosen, Briten, Belgier und Niederländer – in deutscher Kriegsgefangenschaft. Am frühen Morgen des folgenden Tages begann die eigentliche Schlacht um Frankreich und damit die zweite Phase des deutschen Westfeldzugs. Mehr als 100 deutschen Divisionen standen weniger als 50 sofort einsatzfähige französische Divisionen gegenüber. Die Luftüberlegenheit Deutschlands war erdrückend, ebenso die der deutschen Panzertruppen. Zu großen Schlachten kam es nicht mehr. Die Wehrmacht drang hinter dem Rücken der Maginotlinie nach Süden vor; sie eroberte das Elsaß und die Normandie; am 9. Juni wurde Rouen eingenommen. Tags darauf erklärte Italien, um bei der zu erwartenden Beute nicht leer auszugehen, Frankreich und Großbritannien den Krieg. Militärischen Ruhm konnten die Italiener freilich nicht an ihre Fahnen heften: Auf eine operative Kriegführung war Italien nicht vorbereitet.
Am 5. Juni, dem letzten Tag der neuen deutschen Offensive, hatte Paul Reynaud seine Regierung nochmals umgebildet. An Stelle seines Widersachers Daladier übernahm der Ministerpräsident selbst das Außenministerium. In seiner Eigenschaft als Verteidigungsminister machte er einen Anwalt des unbedingten Durchhaltewillens, den nunmehrigen Brigadegeneral Charles de Gaulle, zum Unterstaatssekretär. De Gaulle wurde dadurch zum Widerpart Paul Baudouins, der als Unterstaatssekretär im Quai d’Orsay in der Gegenrichtung, im defätistischen Sinn, auf den Regierungschef einwirkte – wie sich zeigen sollte, mit mehr Erfolg als de Gaulle.
Am 10. Juni, dem Tag des italienischen Kriegseintritts, beschloß die Regierung Reynaud, Paris zu verlassen. In den folgenden drei Tagen fanden nochmals, in Gegenwart Churchills, zwei Treffen des Obersten Kriegsrats der Alliierten, zuerst in der Nähe von Orléans, dann bei Tours, statt. Die französische Bitte um einen Einsatz derRoyal Air Force mußte der Premierminister ablehnen, da er die Flugzeuge zur Verteidigung seines Landes brauchte. Am 13. Juni ließen Reynaud und Churchill ein gemeinsames Hilfeersuchen an Präsident Roosevelt herausgehen. Tags darauf besetzten deutsche Truppen Paris, das unmittelbar davor zur «Offenen Stadt» erklärt worden war. Die Regierung Reynaud verlegte ihren Sitz nach Bordeaux – in dieselbe Stadt, in der schon eine andere französische Regierung im Zeichen der nahenden Niederlage im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 ihren provisorischen Sitz aufgeschlagen hatte.
Der Fall von Paris wirkte in hohem Maß demoralisierend, und zwar nicht nur auf die Masse der Franzosen, sondern auch auf ihre politische und militärische Führung. Pétain und Weygand hatten schon in den Tagen zuvor weiteren Widerstand für unmöglich erklärt, wobei Weygand aber darauf bestand, daß nicht das Heer, sondern der Staat insgesamt kapitulieren müsse, womit der Oberkommandierende die Verantwortung der Politiker betonen wollte. Die Antwort Roosevelts, die am 16. Juni im Ministerrat erörtert wurde, trug nicht dazu bei, die Stimmung zu heben. Der Präsident versprach zwar Waffenlieferungen in steigendem Umfang, einen
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