Geschichte des Westens
Kriegseintritt der USA aber konnte er nicht in Aussicht stellen.
Das Kabinett Reynaud sah sich nun vor der Alternative, entweder den Kampf von Nordafrika aus fortzusetzen oder die Deutschen zu bitten, Frankreich die Bedingungen eines Waffenstillstandes mitzuteilen. Ein britisches Angebot, eine «Union» zwischen beiden Staaten mit gemeinsamer Staatsangehörigkeit, einer gemeinsamen Regierung und einem gemeinsamen Heer zu bilden, stieß, obwohl der Ministerpräsident sich zu seinem Fürsprecher machte, auf ungläubiges Staunen und breite Ablehnung. Reynaud neigte zwar persönlich zum Weiterkämpfen an der Seite Großbritanniens, gewann aber den Eindruck, daß er nicht mehr die Mehrheit der Minister auf seiner Seite hatte, und erklärte auf Drängen des Präsidenten der Republik, Albert Lebrun, seinen Rücktritt. Zum Nachfolger ernannte Lebrun noch am 16. Juni den populärsten aller Franzosen, Marschall Pétain. Dieser bildete ein Kabinett, in dem die Defätisten das Sagen hatten: Weygand wurde Verteidigungsminister, Baudouin Außenminister, der ins Friedenslager übergewechselte Admiral François Darlan Marineminister. Der stellvertretende Ministerpräsident Camille Chautemps, der großen Anteil am Rücktritt Reynauds hatte, behielt diesen Posten.
Die Bitte des Ministerrates, Deutschland möge Frankreich seine Bedingungen für einen Waffenstillstand mitteilen, wurde gegen Mitternacht beschlossen und Hitler über den spanischen Botschafter in Frankreich zugeleitet. In einer Rundfunkansprache erklärte Pétain am folgenden Tag seinen Landsleuten, daß Frankreich den Kampf einstellen müsse. Die Rede wirkte wie eine Anweisung, den Deutschen ab sofort keinen Widerstand mehr zu leisten. Die meisten Truppeneinheiten legten daraufhin ihre Waffen nieder. Die Wehrmacht konnte Städte wie Cherbourg, St. Étienne und Lyon kampflos einnehmen; die Panzertruppe des Generals Guderian stieß, von Verdun kommend, bis zur schweizerischen Grenze vor. Am 18. Juni traf sich Hitler mit Mussolini in München, um die Waffenstillstandsbedingungen für Frankreich mit ihm abzustimmen. Die weit ausgreifenden Forderungen des «Duce» nach Nizza, Korsika, großen Teilen Nordafrikas, darunter Tunesien und Französisch-Somaliland, außerdem nach der Übergabe der französischen Flotte und Luftwaffe an Italien, wies Hitler zurück: Ihm lag daran, eine Fortsetzung des Krieges durch die französische Flotte und in den Kolonien zu verhindern und aus dem Frankreich Pétains einen loyalen Satellitenstaat zu machen.
Der greise Marschall hatte, als er Deutschland um Verhandlungen über einen Waffenstillstand bat und bewußt darauf verzichtete, die Annahme der deutschen Bedingungen, entsprechend dem Beschluß des Obersten Kriegsrates der Alliierten vom 28. März 1940, von einer Zustimmung Großbritanniens abhängig zu machen, vermutlich die Mehrheit der Franzosen hinter sich. Die Niederlage war eine Tatsache, und sie hatte eine lange Vorgeschichte, die sich kurzfristig nicht mehr korrigieren ließ. Frankreich hatte sich auf den Schutz verlassen, den ihm die Befestigungen der Maginotlinie zu gewähren schienen; es hatte, entgegen den beharrlichen Mahnungen Charles de Gaulles, keine schlagkräftige, zur offensiven Kriegführung fähige Panzertruppe aufgebaut und seine Luftwaffe vernachlässigt; es hatte sich allzulange, auf der Linken wie auf der Rechten, in Friedensillusionen gewiegt; es war gesellschaftlich und politisch tief gespalten.
Zwar war es nur eine kleine Minderheit, die zur Zeit der Volksfront der rechtsextremen Parole «Lieber Hitler als Blum» applaudiert hatte, aber der Geist der defätistischen Anpassung an das «Dritte Reich» blieb auch unter Daladier und Reynaud lebendig. Der neosozialistische Bürgermeister von Bordeaux, Adrien Marquet, der am29. Juni das Amt des Innenministers in der Regierung Pétain übernahm, und zwei Führer rechtsradikaler Parteien, der Exsozialist Marcel Déat und der Exkommunist Jacques Doriot, waren einige seiner prominentesten Vertreter. Keiner der offen defätistischen Politiker aber war in seinem politischen Opportunismus so konsequent und so bedenkenlos wie der frühere Ministerpräsident Pierre Laval. Am 2. September 1939 hatte er im Senat vergeblich versucht, das Wort gegen die Kriegserklärung an Deutschland zu ergreifen. Im Sommer 1940 trat er als unbedingter Gefolgsmann von Marschall Pétain hervor. Am 22. Juni wurde er zum Stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt.
Für ganz Frankreich
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