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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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30. Oktober 1940, knapp eine Woche nach seinem Treffen mit Hitler in Montoire, bekannt hatte. Laval mußte gehen, weil Pétain ihm und seiner engsten Umgebung mißtraute. Admiral Joseph Darlan, der im Februar 1941 als Vizepräsident des Ministerrats, Außen-, Innen-, Informations- und Marineminister zum neuen «starken Mann» der Regierung aufstieg, erreichte in den «Pariser Protokollen» vom Mai 1941 die Reduzierung der Besatzungskosten um ein Viertel sowie die Entlassung von 100.000 Kriegsgefangenen und gewährte seinerseits den Deutschen verdeckte Unterstützung im Kampf gegen Großbritannien in Irak, Syrien und Nordafrika. Doch in beiden Regierungen, der deutschen wie der französischen, stießen die «Pariser Protokolle» auf so viel Widerstand, daß sie schließlich nicht unterzeichnet wurden. Am 18. April 1942 berief Pétain auf massives deutsches Drängen hin Laval unter Gewährung außerordentlicher Vollmachten erneut an die Spitze der Regierung. Am 22. Juni 1942, dem ersten Jahrestag des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, sprach Laval in einer Rundfunkrede jenen Satz aus, der ihn in den Augen der meisten Franzosen zum bloßenVollzugsorgan der Besatzungsmacht machte: «Ich wünsche den Sieg Deutschlands, weil sich ansonsten der Bolschewismus überall breitmachen wird.»
    Der Staat von Vichy wies viele romantische und rückwärtsgewandte Züge auf. Zu ihnen gehörte der Ausschluß der Frauen aus dem öffentlichen Dienst, die Aufwertung des Vaters als Oberhaupt der Familie, die subventionierte «Rückkehr zur Scholle», mit der der Landflucht Einhalt geboten werden sollte, der Kampf gegen das Freimaurertum und die Ideen der Aufklärung, der bei manchen, nicht bei allen Vertretern des Regimes mit einem demonstrativen Klerikalismus einherging. Den berufsständischen Vorstellungen der Rechten kamen die Zwangsorganisationen für die Bauern und viele freie Berufe, darunter Ärzte, Apotheker und Architekten, entgegen, ebenso die Auflösung der Gewerkschaften und des Dachverbandes der Unternehmer zugunsten reiner Berufsverbände. Dem Vorbild der italienischen Carta del Lavoro von 1926 entsprach, schon vom Namen her, die Charte du Travail vom 4. Oktober 1941, die für die Sozialbeziehungen innerhalb der Unternehmen einen arbeitsrechtlichen Kodex schuf und nach dem Urteil Henry Roussos hinter einer sozialpartnerschaftlichen Fassade die Macht der Firmenchefs stärkte.
    Sein reaktionäres und repressives Gesicht zeigte Vichy besonders deutlich in den schon erwähnten Judendekreten vom Oktober 1940 und Juni 1941, aber auch in der Säuberung des öffentlichen Dienstes und der Richterschaft von Anhängern der Dritten Republik. Die Unabsetzbarkeit der Richter wurde aufgehoben und mit ihr die Unabhängigkeit der Justiz; es folgte die Schaffung einer Reihe von Sondergerichten, unter anderem für die Verfolgung der «Verantwortlichen der Niederlage», zur Unterdrückung der Kommunisten und zur Bekämpfung des Schwarzen Marktes. Ein Prozeß gegen die angeblich Schuldigen der Niederlage von 1940, an ihrer Spitze Léon Blum und Édouard Daladier, vor dem Obersten Gerichtshof in Riom wurde jedoch zu einem Debakel. Das Verfahren wurde am 11. April 1942 vertagt, nachdem Hitler öffentlich beanstandet hatte, daß es in Riom nicht um die Verantwortung für den Krieg, sondern lediglich um dessen mangelhafte Vorbereitung gehe.
    Neben Zwang, Unterdrückung und Reaktion gab es aber auch modernisierende Elemente im État français. René Rémond rechnet zu ihren Trägern ökonomische und finanzwissenschaftliche Theoretikerund Praktiker, denen die wirtschaftliche Rückständigkeit Frankreichs bewußt war und deren Ziel es war, ihr Land in eine mächtige Industrienation zu verwandeln. «Diese Technokraten, die den politischen Gegebenheiten relativ gleichgültig gegenüber standen, waren die Erben der Technikergeneration aus der Vorkriegszeit …; sie waren die Vorläufer der kommenden Generation hoher Funktionäre, die Frankreichs Modernisierung nach 1945 zum Erfolg führten, was so rasch nicht gelungen wäre, wenn Vichy nicht die Grundlagen dafür gelegt hätte.»
    Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion bedeutete auch für Frankreich eine Zäsur. Unter den Vorzeichen des Hitler-Stalin-Paktes hatte der illegale PCF versucht, sich mit den Besatzern zu arrangieren – was sogar zu dem, allerdings sofort zurückgewiesenen Ansinnen führte, die «Humanité» und andere Parteizeitungen wieder zuzulassen. Nach dem

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