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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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der État français mit der Fürsorge für die andernfalls zurückbleibenden minderjährigen Juden neue Lasten aufbürdete. Die größte Razzia wurde Mitte Juli 1942 von der französischen Polizei organisiert: 12.800 ausländische Juden wurden bis zu ihrem Abtransport tagelang in der Winterradsporthalle der Hauptstadt, dem Vélodrome d’Hiver, kurz Vel’ d’Hiv’ genannt, zusammengepfercht, obwohl die amtlichen Stellen dort keinerlei Vorkehrungen für die Unterbringung und Versorgung so vieler Menschen getroffen hatten. Bis Oktober wurden 10.500 ausländische Juden aus den Internierungslagern des unbesetzten Frankreich nach Drancy gebracht, von wo aus die Deportationszüge ins besetzte Polen abfuhren. Die Gesamtzahl der aus Frankreich deportierten Juden belief sich Ende 1942 auf 42.000 – das waren mehr als die Hälfte der in Frankreich festgenommenen Juden, die dem nationalsozialistischen Rassenmord zum Opfer fielen.
    Die Razzien, die im Sommer 1942 in mehreren französischen Großstädten stattfanden, waren nicht geheimzuhalten und riefen Proteste hervor. Die Präfekten berichteten von Empörung in der Bevölkerung; mehrere katholische Bischöfe legten in Hirtenbriefen, die in den Kirchen verlesen wurden, Verwahrung gegen das Unrecht ein, das den Juden angetan werde. Der Erzbischof von Toulouse, Monsignore Saliège, nannte am 23. August die Juden Menschen, die von Christen als Brüder behandelt werden müßten. Das Vichy-Regime, das sich bisher auf die Unterstützung des katholischen Klerus hatte verlassen können, berief sich demgegenüber auf antijüdische Äußerungen von Päpsten und Scholastikern und sprach von einer Agitation, hinter der die Gegner der «nationalen Revolution» stünden. Über den offiziellen Pressedienst rief die Regierung die Katholiken Anfang September auf, ihr Mitgefühl lieber den 1,2 Millionen Kriegsgefangenen zuzuwenden, diese zumindest seien «echte Söhne Frankreichs».
    Die französischen Kriegsgefangenen spielten auch eine Rolle bei den Versuchen Vichys, den Forderungen der Besatzungsmacht nach einem größeren Engagement Frankreichs im Rahmen der deutschen Kriegswirtschaft nachzukommen. Als Hitlers Generalbevollmächtigterfür den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, für die zweite Hälfte des Jahres 1942 350.000 Arbeitskräfte aus Frankreich verlangte, gelang es Laval, die Zahl auf 150.000 zu senken und einen Austausch von drei Arbeitern gegen einen freigelassenen Kriegsgefangenen, die sogenannte «Relève», durchzusetzen. Doch meldeten sich auf den entsprechenden Appell Lavals vom 22. Juni 1942 hin bis Ende Juli nur etwa 40.000 Freiwillige, woraufhin das Reich die meisten der 1,2 Millionen Kriegsgefangenen zur Zwangsarbeit verpflichtete.
    Im September 1942 erließ die Regierung ein Gesetz, das die Mobilisierung von Männern zwischen 18 und 35 Jahren zu Arbeiten erlaubte, die angeblich im höheren Interesse der Nation lagen. Auf Grund dieses Gesetzes wurden Ende 1942 weitere 240.000 Arbeitskräfte nach Deutschland geschickt. Die Forderung Sauckels nach zusätzlichen 250.000 Fremdarbeitern aus Frankreich hatte die Einführung eines zweitägigen Zwangsarbeitsdienstes für Männer der Jahrgänge 1920 bis 1922, des Service de travail obligatoire (STO), zur Folge. Die Betroffenen, ihre Familien und die Kirche reagierten mit Entrüstung; zahlreiche junge Männer schlossen sich der Résistance an, um der Zwangsarbeit in Deutschland zu entgehen; im Verwaltungsapparat, bei der Polizei und Gendarmerie gab es viele, die trotz Androhung harter Strafen kein Interesse daran zeigten, «STO» zum Erfolg zu führen.
    Zwischen dem Mobilisierungsgesetz und der Einführung des Zwangsarbeitsdienstes lag die tiefste Zäsur in der Geschichte des Vichy-Regimes: die Landung der alliierten Truppen in Nordafrika und die Besetzung des bisher unbesetzten Teiles von Frankreich durch die Deutschen im November 1942. Hatte der État français bis dahin noch über einen gewissen politischen Spielraum verfügt, so war er fortan nur noch ein vollständig vom Willen des Reiches abhängiger Satellitenstaat: ein Sachverhalt, den Laval beharrlich zu leugnen versuchte. Am 30. Januar 1943, dem zehnten Jahrestag von Hitlers «Machtergreifung», ersetzte er den Service d’ordre légionnaire durch die Milice français, zu deren Generalsekretär er den Chef des SOL, Joseph Darnand, machte. Die paramilitärische Milice bestand aus Freiwilligen, denen es oblag, die Ordnung aufrechtzuerhalten, Arbeitsverweigerer,

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