Geschichte des Westens
Friedenswahrers, hätte übernehmen können. Die föderalistische Reform, die sein Nachfolger in letzter Stunde durchzuführen versuchte, kam zu spät, um die Monarchie noch zu retten. Das Streben nach Unabhängigkeit war stärker als die Staatsklugheit des letzten Kaisers. Ob die neu entstandenen Staaten, die sich Nationalstaaten nannten, es aber streng genommen nicht waren, besser mit den Problemen einer nationalen Gemengelage umgehen würden als die untergegangene «k. u. k.» Monarchie: Das war eine der vielen offenen Fragen in der Umbruchszeit von 1918/19.[ 11 ]
Offen blieb während des Krieges lange auch die polnische Frage. Von den drei Teilungsgebieten fühlte sich das österreichische, also das Kronland Galizien mitsamt der bis 1846 selbständigen Freien Stadt Krakau, am wenigsten in seiner nationalen Identität bedroht. Die dort lebenden Polen waren ebenso wie die Österreicher Katholiken; das unterschied die Lage dieses Teiles von Polen von der in den anderen beiden,die es mit einer andersgläubigen Teilungsmacht zu tun hatten: einer protestantischen im Fall Preußen-Deutschlands, einer orthodoxen im Fall Rußlands. Der einheimische Landadel Galiziens war die tonangebende Gruppe, bildete einen Teil der habsburgischen Führungsschicht und war im allgemeinen «österreichisch» gesinnt. Erst die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts in Cisleithanien im Jahre 1907 gab Bürgern, Arbeitern und Bauern die Möglichkeit, ihre Interessen politisch stärker zur Geltung zu bringen. Als gefährlich empfand die Regierung in Wien das Selbständigkeitsstreben der ukrainisch sprechenden Ruthenen, die sich in «Altruthenen» und «Ukrainer» aufgliederten: Während die «Altruthenen» sich «Großrußland» und der russischen Orthodoxie verbunden fühlten (und von panslawistischen und militant orthodoxen Kreisen des Zarenreiches aktiv gefördert wurden), waren die meist jüngeren und überwiegend griechisch-katholischen (das heißt dem Ritus nach orthodoxen, kirchenrechtlich aber mit Rom verbundenen) «Ukrainer» Befürworter eines nationalen Zusammenschlusses aller Ukrainer und darum ebenso antirussisch wie antiösterreichisch eingestellt.
Der preußische Teil des historischen Polen, bestehend aus dem Großherzogtum Posen und Westpreußen, war das am meisten industrialisierte, wohlhabendste und «bürgerlichste» der drei Teilungsgebiete. (1921, nach der Wiederherstellung eines unabhängigen polnischen Staates, belief sich der Anteil der Analphabeten in den ehemals preußischen Wojewodschaften auf 4,2 Prozent der über zehn Jahre alten Bevölkerung, während der Landesdurchschnitt bei 33,1 Prozent lag. Zehn Jahre später, 1931, waren in ganz Polen 60,6 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt; in Posen waren es weniger als 50 Prozent.) Die Polen waren im preußischen Abgeordnetenhaus und im deutschen Reichstag mit einer eigenen Fraktion vertreten; zwischen dem preußischen und dem polnischen Adel gab es manche familiären Beziehungen. Aber seit den 1880er Jahren wurden die germanisierenden Bestrebungen der Berliner Politik immer stärker; die polnische Sprache geriet ebenso unter Druck wie der polnische Großgrundbesitz. Von einem «Hineinwachsen» der Polen in das Deutsche Reich konnte, wenn man einmal von den ins Ruhrgebiet eingewanderten polnischen Arbeitern absieht, keine Rede sein.
Der in das Russische Reich eingegliederte Teil des alten Polen zerfielin zwei sehr unterschiedliche Gebiete: die «geschichtlichen Ostmarken» mit einer überwiegend litauischen, weißrussischen und ukrainischen Bauernbevölkerung und das 1815 gebildete «Königreich Polen», auch «Kongreßpolen» genannt: ein mehrheitlich von ethnischen Polen bewohntes Gebiet mit kleineren Minderheiten von Deutschen, Juden, Litauern und Ukrainern. Die Ostmarken waren seit den 1860er, Kongreßpolen seit Mitte der 1880er Jahre einer systematischen Russifizierungspolitik ausgesetzt gewesen; erst seit der Revolution von 1905 trat hier eine gewisse Milderung ein. Im Zuge der Industrialisierung war, vor allem in den Gebieten um Warschau und Lodz, eine starke Arbeiterbewegung entstanden, aufgeteilt in die nationalpolnisch geprägte, von Józef Piłsudski geführte Polnische Sozialistische Partei (PPS) und die entschieden internationalistische Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen (SDKPiL), die Partei von Rosa Luxemburg und, seit diese 1899 nach Deutschland übergesiedelt und in der SPD aktiv
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