Geschichte des Westens
Festung Magdeburg verbracht, konnte Piłsudski bis zu seinerFreilassung Anfang November 1918 die politische Entwicklung in Polen nicht mehr beeinflussen. Seiner politischen Autorität aber konnte die erzwungene Abwesenheit nichts anhaben. Die Internierung machte Piłsudski vielmehr erst recht zu einem nationalen Mythos.
Kurz nach der Verhaftung Piłsudskis beschlossen die Regierungen in Berlin und Wien, dem Königreich Polen ein provisorisches Staatsoberhaupt in Gestalt eines Regentschaftsrats zu geben. Der demonstrative Rücktritt des Staatsrates am 25. August 1917, ein Protest gegen die ständige Gängelung durch die Besatzungsmächte, beschleunigte die Entwicklung. Am 12. September erklärten die beiden Kaiser, Wilhelm II. und Karl, in einem gemeinsamen Patent Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung weitgehend zur Sache der Polen. Am 27. Oktober wurde ein dreiköpfiger Regentschaftsrat, bestehend aus dem Warschauer Erzbischof Kakowski, dem Warschauer Stadtpräsidenten Fürst Lubomirski und dem Grafen Ostrowski, eingesetzt. Am 7. Dezember folgte die Berufung einer polnischen Regierung unter dem Vorsitz des Juristen Jan Kucharzewski.
Kaum hatte das Königreich Polen den Zustand der Autonomie erlangt, da änderte die zweite russische Revolution des Jahres 1917 die internationale Lage radikal. Die Machtergreifung der Bolschewiki zerstörte die Hoffnung der «Passivisten», Rußland werde weiterhin an der Seite der Westmächte seinen Beitrag zum Sieg über die Mittelmächte leisten. Im Zuge der Enteignung des Großgrundbesitzes verloren auch die polnischen Gutsbesitzer in den «Ostmarken» ihre Ländereien. Das in diesem Gebiet stationierte, dem Obersten Polnischen Heereskomitee unterstellte Erste Polnische Korps unter General Dowbor-Muśnicki trat daraufhin, um den polnischen Besitz in Land und Stadt zu schützen, in den bewaffneten Kampf gegen die Bolschewiki ein. Im Januar 1918 fiel die Festung Bobruisk, im Februar die Stadt Minsk in die Hände der polnischen Verbände, die in dieser Zeit «objektiv» als Verbündete der Mittelmächte agierten. Auch die Nationaldemokraten schwenkten jetzt um: Einer ihrer prominentesten Vertreter, Jan Stecki, übernahm das Amt des Innenministers in der Regierung Kucharzewski. Hans Roos beschreibt den Einfluß der russischen Ereignisse auf Polen wie folgt: «Hatte die Februarrevolution die polnische Linke der Politik der Mittelmächte entfremdet, so brachte die Oktoberrevolution umgekehrt starke Gruppen der Rechten der Besatzungsgewalt und der von ihr eingesetzten Regierung näher.»
Die weitgehende Übereinstimmung zwischen Polen und den Mittelmächten war aber nur von kurzer Dauer. Am 9. Februar 1918 schlossen Deutschland und Österreich-Ungarn den Sonderfrieden mit der Ukraine, der dieser alle überwiegend ukrainisch besiedelten Gebiete, darunter einen kleinen Teil Kongreßpolens, das Cholmer Land, zugestand. Eine Woche später proklamierte der vom deutschen Oberkommando Ost eingesetzte Litauische Landesrat einen unabhängigen litauischen Nationalstaat; am 23. März wurde dieser vom Reichstag offiziell anerkannt. Die Deutschen schoben damit der Wiederherstellung der alten litauisch-polnischen Union, also einem «jagiellonischen» Polen, wie es Piłsudski und seine Anhänger, inzwischen aber auch Dmowskis Nationaldemokraten erstrebten, einen Riegel vor. Am wenigsten mochten die Polen aller Richtungen sich damit abfinden, daß Wilna, eine mehrheitlich von Polen bewohnte Stadt, und das östliche Galizien mit seiner teils polnischen, teils ukrainischen Bevölkerung keinen Teil des neuen polnischen Staates bilden sollten. Der Regentschaftsrat protestierte am 14. Februar 1918 gegen die «neue Teilung Polens»; die Regierung Kucharzewski trat zurück, ebenso der österreichische Generalgouverneur in Lublin, Graf Szeptycki.
Zum offenen Bruch zwischen Polen und den Mittelmächten kam es jedoch nicht. Am 4. April wurde in Warschau eine neue Regierung unter dem aus Galizien stammenden Juristen und Ökonom Jan Steczkowski und dem Prinzen Janusz Radziwill als Leiter des Politischen Departments gebildet. Was diese Regierung und die Besatzungsmächte zusammenhielt, war das gemeinsame Interesse an der Abwehr des Bolschewismus – ein «Bündnis», das in Polen allerdings heftig umstritten war, da es bei den Sozialisten, vor allem auf dem linken Flügel der PPS, starke Sympathien für die Partei Lenins gab. Die Linke boykottierte denn auch im Juni die (indirekten) Wahlen zum
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