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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich August Winkler
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geworden war, Feliks Dzierzyński, die starken Einfluß auf den linken Flügel der PPS ausübte. Eng mit dem rechten Flügel der PPS arbeitete die Polnische Sozialdemokratische Partei in Galizien und Schlesien unter Ignacy Daszyński zusammen, die innerhalb der cisleithanischen Sozialdemokratie erhebliches Gewicht besaß.
    Im bürgerlichen Lager war die bedeutendste Gruppierung die 1886 gegründete Demokratische Liga, die sechs Jahre später von dem jungen Roman Dmowski zur Nationalen Liga umgebildet wurde. Dmowski sah in Deutschland den eigentlichen Gegner des Polentums, woraus sich für ihn die Notwendigkeit einer Aussöhnung zwischen Polen und Rußland ergab. Während Piłsudski, der aus einer in der Umgebung von Wilna ansässigen polnischen Kleinadelsfamilie stammte, in der «jagiellonischen» Tradition einer großen polnisch-litauischen Föderation, möglichst in den Grenzen von 1772, also der Zeit vor der Ersten Teilung Polens, stand, war Dmowski ein Vertreter der «piastischen» Denkschule, die in Anknüpfung an das vermeintliche Erbe des polnisch-schlesischen Herrschergeschlechts der Piasten Polen nach Westen hin, auf Kosten Deutschlands, vergrößern wollte.
    Die von Dmowski nach der Revolution von 1905 gegründete, bei der Ersten Dumawahl im Jahr darauf sehr erfolgreiche Nationaldemokratische Partei, kurz «Endecja» genannte, stellte sich aber nicht nur gegen Deutschland, sondern auch gegen die Juden, denen der Vorwurf galt, sie beherrschten das städtische Handwerk und verhinderten sodie Entstehung eines gesunden polnischen Mittelstandes, und gegen die Sozialisten als Feinde des Privateigentums und damit aller bürgerlichen Ordnung. Die Zunahme der autoritären Tendenzen im Zarenreich nach 1905 führte dann dazu, daß viele enttäuschte Nationaldemokraten mit der Partei Dmowskis brachen und sich Piłsudski anschlossen, der inzwischen seinerseits begonnen hatte, weit über die PPS hinaus eine Bewegung für die polnische Unabhängigkeit zu organisieren.
    Mit Blick auf Russisch-Polen hat der deutsche Historiker Hans Roos die innenpolitischen Fronten wie folgt beschrieben: «Einem antirussischen Lager stand ein antideutsches gegenüber, einem sozialistisch-bürgerlichen ein bürgerlich-adeliges, einem auf Unabhängigkeit gerichtetes ein autonomistisches, einem revolutionären ein legales.» In Galizien war der Gegensatz zwischen Nationaldemokraten und Sozialisten kaum weniger stark ausgeprägt wie in Russisch-Polen. Als eine Art von dritter Kraft kam hier aber noch die «Krakauer Schule» hinzu, die auf eine enge Zusammenarbeit mit der «mildesten» Teilungsmacht, Österreich, hinwirkte. Galizien stellte sich vor allem den jüngeren Anhängern dieser Richtung als ein «polnisches Piemont» dar: Wenn es, womit man angesichts der wachsenden Gegensätze zwischen beiden Mächten rechnen mußte, zu einem Krieg zwischen Rußland und Österreich-Ungarn kam, sollte Galizien bei der Erkämpfung der polnischen Unabhängigkeit eine ähnliche Rolle übernehmen wie das Königreich Sardinien-Piemont bei der Einigung Italiens. Piłsudski setzte seine Hoffnungen ebenfalls auf einen Krieg zwischen den Teilungsmächten. Bereits im Juni 1914 sagte der damals Sechsundfünfzigjährige in bemerkenswerter Klarsicht voraus, daß, wenn ein derartiger Krieg ausbrechen sollte, zuerst die Mittelmächte Rußland und dann die Westmächte die Mittelmächte besiegen würden. Die Träger der polnischen Staatsidee müßten sich also, so Roos über das Kalkül Piłsudskis, «zuerst mit den Mittelmächten verbünden, um dann in der Peripetie des Krieges zu den Westmächten überzugehen … Der Ausbruch des Krieges brachte für ihn die Erhörung jenes Gebetes, mit dem der berühmte Dichter Adam Mickiewicz … einst Gott um einen Krieg zur Befreiung der unterdrückten Polen angefleht hatte.»
    Zwei der Teilungsmächte gingen, was die Zukunft Polens betraf, ohne klare Zielvorstellungen in den Ersten Weltkrieg. Der deutsche Reichskanzler von Bethmann Hollweg entwickelte im August 1914den Plan eines formell unabhängigen, eng mit Deutschland verbündeten Kongreßpolen; die russische Regierung zögerte, sich auf das Programm Dmowskis, ein um die deutschen Ostprovinzen und Galizien erweitertes, mit Rußland liiertes Kongreßpolen, festzulegen. Nur Österreich-Ungarn verfolgte schon zu Kriegsbeginn eine fest umrissene Idee, nämlich die Vereinigung von Galizien mit Kongreßpolen und die Umwandlung dieses Gebiets in ein Kronland des Habsburgerreiches.

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