Geschichte des Westens
Abgeordnete in die «Volksvertretung» entsenden. Das industrielle Proletariat, das bisher im Parlament überhaupt nicht vertreten war, konnte der Ministerpräsident mit seinem Vorhaben nicht beeindrucken. Kurz bevor das Wahlgesetz verabschiedet wurde, am 20. Juni 1918, legten die Arbeiter der staatlichen Eisenbahnwerke in Budapest die Arbeit nieder. Als der Militärkommandant der Hauptstadt das Feuer auf die Streikenden eröffnen ließ, schlossen sich die Arbeiter aller Budapester Fabriken dem Ausstand an. Er dauerte neun Tage und konnte erst durch Vermittlung der Sozialdemokratischen Partei beendet werden. Die Hauptforderungen der Protestierenden waren politischer Natur: Im Vordergrund standen ein sofortiger Friedensschluß und der Rücktritt der Regierung Wekerle.
Ein Vierteljahr später endete der österreichisch-ungarische Dualismus. Am 16. Oktober 1918, knapp zwei Wochen, nachdem Wien sich dem deutschen Waffenstillstandsersuchen vom 4. Oktober angeschlossen hatte, ließ Kaiser Karl das von seinem vorletzten Ministerpräsidenten Max Hussarek-Heinlein verfaßte und gegengezeichnete «Völkermanifest» herausgeben. Darin rief er zur Bildung von Nationalräten, bestehend aus den jeweiligen Abgeordneten des Reichsrats, auf und verkündete den Umbau der Monarchie in einen Bundesstaat. Ohne es zu wollen, hatte er damit, wie Adam Wandruszka schreibt, «den Umsturz legalisiert und den Anstoß zur Auflösung der Monarchie gegeben».
Die Regierung Wekerle hatte sich ausbedungen, daß die Integrität der transleithanischen Reichshälfte nicht angetastet werden sollte, konnte aber nicht verhindern, daß die Sezessionsbestrebungen bei den Rumänen, Südslawen und Slowaken sich verstärkten. Am 24. Oktober traf in Budapest die Nachricht von einer Meuterei kroatischer Truppen ein; am gleichen Tag demonstrierten ungarische Offiziere für den Frieden und eine Regierung des als Reformer bekanntenGrafen Mihály Károlyi. Ebenfalls am 24. Oktober bildeten die Unabhängigen, die Partei Károlyis, zusammen mit den bürgerlichen Radikalen und den Sozialdemokraten ein Nationalkomitee, das seine Tätigkeit mit einer Erklärung begann, in der es einen selbständigen Staat Ungarn forderte und das Selbstbestimmungsrecht anerkannte, gleichzeitig aber an der territorialen Integrität Ungarns festhielt. Am 29. Oktober ließ sich die Budapester Garnison auf das Nationalkomitee vereidigen. Zwei Tage später ernannte Erzherzog Josef im Auftrag von Kaiser Karl Károlyi zum Ministerpräsidenten. Dieser bildete eine Regierung, an der sich auch die Sozialdemokraten beteiligten. Am selben 31. Oktober wurde der frühere Ministerpräsident Graf Tisza ermordet. Gut zwei Wochen später, am 16. November 1918, verkündete die Regierung Károlyi offiziell das Erlöschen aller staatsrechtlichen Bindungen zwischen Ungarn und Österreich, den Thronverlust des Hauses Habsburg und die Errichtung der Ungarischen Volksrepublik. Am 11. Januar 1919 folgte die Ernennung Károlyis zum provisorischen Präsidenten der Republik.
Die Auflösung des historischen Ungarn, der Länder der Stephanskrone, konnte der Regierungswechsel in Budapest nicht mehr aufhalten. Am 17. Oktober war in Czernowitz, der Hauptstadt der Bukowina, ein Nationalausschuß gegründet worden, der die Vereinigung mit Rumänien propagierte. Die rumänischen Abgeordneten des Budapester Parlaments erhoben in ihrer letzten Erklärung vor dieser Versammlung am 18. Oktober dieselbe Forderung für Siebenbürgen. Zuvor schon, am 5. und 6. Oktober, hatten Vertreter der südslawischen Parteien aus beiden Reichshälften in Zagreb, auf deutsch Agram, den bestehenden, mit tschechischer Unterstützung gebildeten Nationalausschuß zu einem erweiterten Nationalausschuß umgewandelt, der die Vereinigung aller Serben, Kroaten und Slowenen zu seinem Programm erhob. Am 20. Oktober verabschiedete der kroatische Landtag einen Gesetzentwurf, der die verfassungsmäßigen Verbindungen zwischen Kroatien, Slawonien, Dalmatien und Fiume, auf kroatisch Rijeka, mit der österreich-ungarischen Monarchie für beendet und diese Länder zu Teilen des «Staates der Serben, Kroaten und Slowenen» erklärte. Ebenfalls am 29. Oktober wurde in Ljubljana, auf deutsch Laibach, die Unabhängigkeit Sloweniens proklamiert. Am 1. November ließ sich der Nationalausschuß vom regionalen Militärkommandanten die Verwaltung Bosniens und der Herzegowina übertragen.
Die erstrebte Vereinigung mit Serbien nahm mehr Zeit in
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