Geschichte des Westens
Anspruch. Am 6. November hielt der aus dem Exil in Korfu zurückgekehrte Prinzregent Alexander feierlich Einzug in Belgrad. Am 1. Dezember proklamierte er das «Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen». Daß er sich damit gegenüber dem Nationalkomitee in Zagreb durchsetzen konnte, lag auch an Italien, das unter Berufung auf das Londoner Abkommen vom April 1915 Anspruch auf große Teile der dalmatinischen Küste erhob und (obwohl das im Londoner Vertrag
nicht
vorgesehen war) inzwischen Fiume besetzt hatte. Das Vordringen der Italiener an der östlichen Adria war auch eine Folge ihres militärischen Triumphes über die Truppen der Donaumonarchie in der neuntägigen Schlacht von Vittorio Veneto, die am 24. Oktober, dem ersten Jahrestag der verheerenden Niederlage von Caporetto, begann und am 3. November mit der Kapitulation der österreichisch-ungarischen Verbände und der Vereinbarung über den Waffenstillstand zwischen den Westmächten und der Donaumonarchie in Padua endete. Am nämlichen 3. November fiel auch Trient in die Hände der italienischen Truppen. Mit dem Sieg über den habsburgischen Erzfeind schien sich Italien endlich die Möglichkeit zu bieten, in vollem Umfang das Programm der Heimholung der «unerlösten» Gebiete, der «Irredenta», zu verwirklichen.
Für die tschechischen Protektoren der südslawischen Einheit war der Weg in die Unabhängigkeit um einiges einfacher. In Prag wurde der Nationalausschuß von den bürgerlichen Nationalisten dominiert. Als Unterstützung ihres Strebens nach völliger Trennung vom Haus Habsburg konnten sie es verbuchen, daß am 30. Juni Italien und Frankreich, am 13. August Großbritannien und am 3. September auch Präsident Wilson die Selbständigkeit eines künftigen tschechoslowakischen Staates anerkannt hatten. Als am 27. Oktober Graf Julius Andrássy der Jüngere, der Außenminister des Kabinetts Lammasch, der letzten kaiserlichen Regierung, die USA um einen sofortigen Waffenstillstand auf der Grundlage der amerikanischen Note vom 18. Oktober ersuchte, wurde dies vom Nationalausschuß als das interpretiert, was es war: die Aufkündigung des Bündnisses mit dem Deutschen Reich und die Anerkennung des Anspruchs der Tschechen und Südslawen auf staatliche Unabhängigkeit. Am gleichen Tag, dem 27. Oktober, bat der Oberkommandierende der Armee in Böhmen den Nationalausschuß, auf die tschechischen Soldaten einzuwirken, damit diesemindestens bis zum Waffenstillstand auf ihren Posten ausharrten. Am 28. Oktober stellte der Nationalausschuß fest, der selbständige tschechoslowakische Staat sei ins Leben getreten. Am selben Tag übernahm der Nationalausschuß die militärischen Kommandos in Prag, Pilsen und Leitmeritz: Ministerpräsident Lammasch erkannte die neuen Machtverhältnisse auf seine Weise an, als er am 30. Oktober einen Abgesandten des Nationalausschusses in Wien als «Botschafter des tschechoslowakischen Staates» begrüßte.
Tatsächlich stand zu diesem Zeitpunkt noch nicht zweifelsfrei fest, ob die Slowaken bereit waren, sich mit den Tschechen zu vereinigen. Die Einheit der Tschechen und Slowaken war bislang ein überwiegend intellektuelles Projekt. Der slowakische Nationalausschuß erklärte am 30. Oktober unmittelbar nach seiner Gründung zwar, daß die Slowaken «sprachlich, kulturell und historisch ein Teil der tschechoslowakischen Nation» seien, gleichzeitig aber bestand er auf dem Selbstbestimmungsrecht der Slowaken. An die Spitze der ersten slowakischen Regierung trat der Führer der Slowakischen Nationalpartei, Vavro Šrobár, der kurz zuvor aus ungarischer Haft entlassen worden war und als einziges slowakisches Mitglied des Prager Nationalausschusses an der Verabschiedung des Gesetzes über die Gründung eines unabhängigen tschechoslowakischen Staates mitgewirkt hatte. Von Prag nach Bratislava (Preßburg) zu gelangen war indes schwieriger, als Šrobár und seine tschechischen Unterstützer angenommen hatten: Da die slowakische Hauptstadt noch in ungarischer Hand war, mußte die Regierung Šrobár ihre erste Sitzung im mährischen Skalitz abhalten.
Widerstand gegen die tschechoslowakische Staatsgründung kam von den Deutschen in Böhmen und Mähren, die in ihrer großen Mehrheit in Gebieten wohnten, die entweder an das «eigentliche» Österreich oder an das Deutsche Reich grenzten. Da in Wien mittlerweile die Sozialdemokraten den Ton angaben, wandten sich die bürgerlichen Abgeordneten aus Böhmen und Mähren an die
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