Geschichte des Westens
Deportationen, Vertreibungen und Bombenkrieg, aber auch die Millionen von Hungertoten, die in vielen Statistiken gar nicht auftauchen.
Die Zahl der gefallenen oder in Kriegsgefangenschaft gestorbenen Soldaten lag bei mindestens 27 Millionen und war damit mehr als dreimal so hoch wie die Zahl der getöteten Kombattanten des Ersten Weltkriegs, die auf 8,5 Millionen geschätzt wird. Die größten Opferzahlen hatten die Sowjetunion und China mit 27 beziehungsweise 13,5 Millionen zu beklagen. Es folgten Deutschland mit 6,35, Indien mit über 3 und Japan mit über 2 Millionen Toten, gefallene Soldaten und umgekommene Zivilisten jeweils zusammengerechnet.
Von «reinen» Bürgerkriegen abgesehen, wurden seit dem Dreißigjährigen Krieg in keinem europäischen Krieg die Grenzen zwischen Kombattanten und Zivilisten so sehr zum Verschwinden gebracht wie im Zweiten Weltkrieg. Auch wenn dieser Krieg keineswegs überall ein «totaler» war, so war er doch weit totaler als der Erste Weltkrieg. Das Gebot der Haager Landkriegsordnung von 1907, Angriffe nur auf militärische Ziele zu richten und die Zivilbevölkerung soweit wie möglich zu schonen, wurde nicht nur von den diktatorisch regierten Angreiferstaaten, sondern zunehmend auch von den westlichen Demokratien mißachtet. Das «moral bombing» der Alliierten diente erklärtermaßen dem Zweck, den Durchhaltewillen der Zivilbevölkerung zu brechen und so den Aggressorstaaten den Massenrückhalt zu nehmen.
Die Flächenbombardements auf deutsche und japanische Städte waren aber nicht der einzige Bereich, in dem die demokratischen Westmächte sich den brutalen Kampfmethoden der Feinde annäherten. Auch zu den von den Westmächten sanktionierten Massenvertreibungen wäre es 1945 nicht gekommen, hätte Deutschland in dem von ihm beherrschten Europa nicht mörderische «ethnische Säuberungen» in großem Stil vorgenommen. In den Worten der Historiker Jörg Baberowski und Anselm Doering-Manteuffel: «Die Vernichtung der deutschen Armeen sowie die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße und aus Böhmen lag in der Konsequenz der deutschen Eroberung und Besatzung.»
Weder die Flächenbombardements noch die Vertreibungen waren im zeitgenössischen Verständnis Kriegsverbrechen: Bei den alliierten Bombenangriffen handelte es sich aus der Sicht der Verantwortlichen um eine angemessene Reaktion auf die deutsche beziehungsweise japanische Aggression; bei den Zwangsmigrationen verwiesen die Westmächte auf vertraglich vereinbarte Vorbilder aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und besonders auf den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch auf der Grundlage des Vertrags von Lausanne von 1922.
Kriegsverbrechen waren im übrigen weder ein Novum des Zweiten Weltkriegs, noch gab es sie nur auf der Seite der Diktaturen, die ihn ausgelöst hatten und auf deren Konto die meisten Kriegsgreuel gingen. Die Liste der sowjetischen Kriegsverbrechen war ebenfalls lang, und sie begann nicht erst mit der Ermordung Tausender polnischer Offiziere bei Katyn im Frühjahr 1940. Auf der Seite der Westalliierten wardie Bindung an das Völkerrecht stärker als bei ihrem kommunistischen Verbündeten, aber auch hier wurden Taten verübt, die unter den Begriff «Kriegsverbrechen» fallen. Im Frühjahr 1945 kam es in der ersten Phase der Besetzung auch im Westen Deutschlands zu Plünderungen, Vergewaltigungen und Gewaltexzessen alliierter Soldaten. Den alliierten Kriegsverbrechen zuzurechnen war auch die unmenschliche Behandlung von mehreren Hunderttausend kriegsgefangenen deutschen Soldaten in etwa 20 «Lagern» auf Wiesen am linken Rheinufer, wo die «Behausungen» aus selbstgegrabenen Erdlöchern unter freiem Himmel bestanden und mindestens 8000 der Insassen umkamen.
1945 erschien der Begriff «Kriegsverbrechen» vielen Rechtsgelehrten und Politikern der westlichen Demokratien zu schwach, um das, was das nationalsozialistische Deutschland und seine Verbündeten der Menschheit angetan hatten, angemessen zum Ausdruck zu bringen. Drei Jahrzehnte zuvor, am 14. Mai 1915, hatten Großbritannien, Frankreich und das russische Zarenreich in einer gemeinsamen Protestnote das Osmanische Reich angesichts der Massaker an den Armeniern eines «Verbrechens gegen die Menschlichkeit und die Zivilisation» beschuldigt. Auf diesen Begriff kamen die Siegermächte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zurück. Am 8. August 1945 nahmen die Vertreter der «Großen Drei» und
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