Geschichte des Westens
bereits 40 Prozent der Industrieproduktion auf den öffentlichen Sektor entfielen. Dazu kamen noch die von der Besatzungsmacht in eigener Regie betriebenen Sowjetischen Aktiengesellschaften der Schwerindustrie. Banken und Sparkassen waren noch früher, im Juli 1945, verstaatlicht worden. Am Ziel der Besatzungsmacht konnte es seit Herbst jenes Jahres keinen Zweifel mehr geben: Die kapitalistische Gesellschaftsordnung sollte systematisch beseitigt und durch eine sozialistische abgelöst werden.
In den Westzonen hielten sich die gesellschaftlichen Eingriffe der Besatzungsmächte in vergleichsweise engen Grenzen. Anläufe zu einer Bodenreform führten nirgendwo zum Ziel. Im industriellen Bereich wurden einige, durch ihre Rolle unter dem nationalsozialistischen Regime besonders belastete Großunternehmen und Großbanken – die IG Farben, die Eisen- und Stahlindustrie der britischen Zone, die Commerz-, die Dresdner und die Deutsche Bank – beschlagnahmt und Treuhändern unterstellt. Aus den zwölf größten Montangesellschaften machte die britische Besatzungsmacht, nachdem sie im Dezember 1945 zunächst die entschädigungslose Enteignung verfügt hatte, 28 voneinander unabhängige Unternehmungen. Eine Sozialisierung von Großbetrieben, wie sie vor allem Sozialdemokraten und Gewerkschaften forderten, fand zwar bei der seit Juli 1945 in London regierenden Labour Party, nicht jedoch beim amerikanischen Militärgouverneur, General Lucius D. Clay, Beifall. Clay setzte sich durch. Die Frage der Sozialisierung wurde mit der Begründung vertagt, sie sei so wichtig, daß sie nicht in einem einzelnen Land oder einer einzelnen Besatzungszone, sondern nur von einem späteren deutschen Gesetzgeber entschieden werden könne.
Der Einschnitt, den das Jahr 1945 in der deutschen Sozialgeschichte hinterlassen hat, läßt sich erst dann ermessen, wenn man zum Vergleich die Situation Deutschlands am Ende des Ersten Weltkriegs heranzieht. Damals gab es in Berlin in Gestalt des Rates der Volksbeauftragten eine deutsche Regierung, deren Legitimität von den Alliierten nicht in Frage gestellt wurde; das Reich wurde nicht besetzt; keine der alten Machteliten mußte als ganze abtreten. Der ostelbische Rittergutsbesitzverlor zwar vorübergehend an politischem Einfluß, konnte aber die gesellschaftlichen Grundlagen seiner Macht behaupten. Der Schwerindustrie gelang es, der Sozialisierungsbewegung zu trotzen. Das Beamtentum wurde durch die Revolution von 1918/19 nicht wesentlich, die Justiz überhaupt nicht erschüttert. Das Militär mußte den Beschränkungen Rechnung tragen, die ihm der Versailler Vertrag auferlegte, blieb aber in der Weimarer Republik das, was es im Kaiserreich gewesen war: ein «Staat im Staat» und darüber hinaus ein innenpolitischer Machtfaktor, der im Fall des Ausnahmezustands zum Träger der vollziehenden Gewalt aufsteigen konnte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es, den Bestimmungen des Potsdamer Abkommens entsprechend, zunächst keine deutsche Staatlichkeit und kein deutsches Militär. Der ostelbische Rittergutsbesitz existierte seit der «Bodenreform» nicht mehr; den einst von ihm geprägten Staat Preußen löste der Alliierte Kontrollrat am 25. April 1947 durch sein Gesetz Nr. 46 mit der pauschalen Begründung auf, dieser sei «seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland» gewesen und habe in Wirklichkeit zu bestehen aufgehört. Die Schwerindustrie wurde im Osten enteignet, im Westen zunächst von den Besatzungsmächten entflochten und später, nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland, der paritätischen Mitbestimmung der Arbeitnehmer unterworfen. Damit konnte keine dieser Machteliten, die in ihrer Mehrheit vor 1933 entschiedene Widersacher der Demokratie gewesen waren, nach 1945 dieselbe oder eine ähnliche Rolle spielen wie in der Weimarer Republik.
Viel stärker war die Kontinuität, was die Westzonen betrifft, im öffentlichen Dienst. Amerikanischen und britischen Versuchen, das deutsche Berufsbeamtentum abzuschaffen und durch einen «civil service» angelsächsischer Prägung zu ersetzen, war kein Erfolg beschieden. Kein Richter, der an Terrorurteilen des «Dritten Reiches» mitgewirkt hatte, wurde deswegen seinerseits verurteilt. Manche Hochschullehrer, die sich zwischen 1933 und 1945 besonders kompromittiert hatten, darunter Martin Heidegger und Carl Schmitt, verloren ihre Lehrstühle. Viele, die im Rückblick kaum weniger belastet erscheinen, konnten nach einer
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