Geschichte des Westens
Frankreichs, entsprechend einer Vereinbarung der Potsdamer Konferenz, das Londoner Abkommen an, wonach sich die Strafgewalt des zu errichtenden Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg auf Verbrechen gegen den Frieden im Sinne der Planung, Vorbereitung, Entfesselung oder Durchführung eines Angriffskrieges, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit erstrecken sollte.
Das Recht, auf dessen Grundlage in Nürnberg (und nach diesem Vorbild kurz darauf auch in Tokio) Urteile ergingen, war neu geschaffenes internationales Recht. An den für alle Rechtsstaaten konstitutiven Grundsatz «nulla poena sine lege» (Keine Strafe ohne Gesetz), das Verbot rückwirkender Strafgesetze, fühlten sich die Völkerrechtsexperten der westlichen Demokratien aus einer nur naturrechtlich zu begründenden Erwägung heraus im konkreten Fall nicht gebunden: Die Strafbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen ergab sich schon daraus, daß sie den von den zivilisierten Völkern allgemein anerkannten Rechtsgrundsätzen fundamental widersprachen. Die Verwerflichkeit der Taten, über die es in Nürnberg zu urteilen galt, war mitanderen Worten so groß, daß das Rechtsgefühl ungleich stärker verletzt worden wäre, wenn diese Verbrechen keine Sühne gefunden hätten. Aus ebendiesem Grund nahmen die Westmächte auch einen anderen Makel des Verfahrens in Kauf: Eine der richtenden Siegermächte, die Sowjetunion, hatte selbst Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in großem Umfang begangen und sorgte nun dafür, daß diese Taten in Nürnberg nicht zur Sprache kamen.
Am 1. Oktober 1946 erging nach fast elfmonatiger Prozeßdauer das Urteil gegen die Hauptkriegsverbrecher. Zwölf der höchsten Funktionsträger des «Dritten Reiches», darunter Göring, Ribbentrop, Frick, Rosenberg, Keitel und Jodl, wurden zum Tode durch den Strang, andere, wie Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß und Rüstungsminister Albert Speer, zu langjährigen Gefängnisstrafen verurteilt. Göring konnte sich, wie schon erwähnt, der Vollstreckung des Urteils am 16. Oktober durch Selbstmord entziehen. Der ehemalige Vizekanzler Franz von Papen und der frühere Reichsbankpräsident und Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht, die Hitler den Weg in die Reichskanzlei geebnet, aber keine Verbrechen im Sinn der Anklage begangen hatten, wurden freigesprochen.
Dem Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher schlossen sich Verfahren gegen Ärzte, Juristen, prominente Industrielle und Konzerne, darunter Flick, Krupp und die IG Farben, Angehörige des Auswärtigen Amtes, des Oberkommandos der Wehrmacht und einzelne militärische und SS-Führer an. (Ebenso wie das Führungskorps der NSDAP, die Gestapo und der SD war die SS zuvor zur «verbrecherischen Organisation» erklärt worden.) In diesen Prozessen ergingen nochmals 36 Todesurteile. Die Gesamtzahl der von den ehemaligen Kriegsgegnern wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit Verurteilten wird auf 50.000 bis 60.000 geschätzt. Von den in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands verurteilten Personen wurde etwa ein Drittel zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion deportiert. In den Westzonen wurde, die Nürnberger Prozesse eingerechnet, in 806 Fällen die Todesstrafe verhängt und in 486 Fällen vollstreckt. Die Zahl der in der sowjetischen Besatzungszone ausgesprochenen und vollstreckten Todesurteile ist nicht bekannt.
Die in Potsdam beschlossene «Entnazifizierung» des Millionenheeres von Mitgliedern nationalsozialistischer Organisationen verlief von Besatzungszone zu Besatzungszone verschieden, aber überall mehroder weniger schematisch. Am rigorosesten und willkürlichsten ging die Sowjetunion vor. Die verhafteten Nationalsozialisten kamen, soweit sie nicht in die Sowjetunion deportiert wurden, zusammen mit mißliebigen bürgerlichen Demokraten und Sozialdemokraten, ja sogar oppositionellen Kommunisten in «Speziallager». Von den mehr als 120.000 Gefangenen dieser Lager, die bis 1950 bestanden, sollen 42.000 ums Leben gekommen sein. Eines der Lager war das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald. Als Thomas Mann am 1. August 1949 im Deutschen Nationaltheater zu Weimar die Festrede zu Goethes 200. Geburtstag hielt, weigerte er sich zur Enttäuschung vieler seiner Bewunderer, auf diese Kontinuität des Terrors einzugehen.
Das Pendant zur Repression war die Privilegierung. Verwaltung, Polizei und Schulen wurden durchgreifend «gesäubert» und zuverlässige
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