Geschichte des Westens
unfreiwilligen Unterbrechung dort weitermachen, wo sie 1945 aufgehört hatten. Die politische Überprüfung des Beamtentums wirkte so disziplinierend, wie die Erfahrung des «Zusammenbruchs» ernüchternd gewirkt hatte. OffeneDemokratiefeindschaft war fortan diskreditiert: Das galt für das Beamtentum ebenso wie für die Justiz.
Eine «Stunde Null» hat es nach dem Untergang des «Dritten Reiches» nicht gegeben, und doch trifft dieser Begriff das Empfinden der Zeitgenossen auf das genaueste. Nie war die Zukunft in Deutschland so wenig vorhersehbar, nie das Chaos so allgegenwärtig wie im Frühjahr und Frühsommer 1945. Das Ende aller Sicherheit prägte sich tief in das Gedächtnis derer ein, die es, wenn auch auf unterschiedliche Weise, das heißt in der sowjetischen Besatzungszone sehr viel brutaler als in den westlichen Zonen, erlebten. Die «Zusammenbruchsgesellschaft» war in allen vier Besatzungszonen hoch mobil: Hungrige Stadtbewohner unternahmen «Hamsterfahrten» aufs Land, wo sie sich auf dem Weg des Gütertausches mit den notwendigen Lebensmitteln versorgten; viele ehedem «Bessersituierte», die nun ohne Gehälter, Pensionen oder sonstige regelmäßige Einkünfte waren, mußten zeitweilig primitive Arbeiten verrichten. Die «Trümmerfrauen», die den Ruinenschutt beseitigten und Ziegelsteine sowie anderes verwertbares Baumaterial retteten, wurden zur Verkörperung eines radikalen Tausches der Geschlechterrollen.
In den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft war der Anspruch der traditionellen Oberschicht auf ein höheres Sozialprestige im Zeichen der «Volksgemeinschaft» systematisch bekämpft, die «Realstruktur» der deutschen Gesellschaft aber nicht revolutioniert worden. Im Zuge von Bombenkrieg, Vertreibung und «Zusammenbruch» veränderte sich die deutsche Gesellschaft weitaus stärker als in den ersten zehn Jahren des «Dritten Reiches». Aber Dauer war den meisten der Veränderungen von 1945 nicht beschieden. Die «Zusammenbruchsgesellschaft» war eine Gesellschaft im Ausnahmezustand. Sie brachte keine neue Ordnung hervor, sondern die tiefe Sehnsucht, so rasch wie möglich zu irgendeiner Art von «Normalität» zurückzukehren.
Tiefer als die soziale reichte die moralische Erschütterung der Deutschen, und sie sollte, immer wiederkehrenden apologetischen Anwandlungen zum Trotz, eine nachhaltige Wirkung zeitigen. Anders als nach 1918 hatten Kriegsunschuld- und Dolchstoßlegenden nach 1945 keine Aussicht, den Beifall der Eliten und der breiten Masse zu finden: Zu offenkundig war, daß der Mann an der Spitze des Reiches den Zweiten Weltkrieg entfesselt hatte und die Hauptverantwortung für seine Ergebnisse trug. Die Trümmer der Städte, die Not der Ausgebombtenund Evakuierten, das Elend der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen, schließlich auch die Verbreitung genaueren Wissens über die Konzentrationslager und die Ermordung der Juden: Das alles sprach gegen Hitler und gegen jeden Rückfall in den Nationalsozialismus. Hitler, die oberste Parteiführung und die SS für die Alleinschuldigen der Verbrechen zu erklären, der Wehrmacht und der Masse der Deutschen hingegen zu bescheinigen, sie seien «anständig» geblieben, blieb freilich noch lange populär. Es war eines, sich vom «Führer» und seinen fanatischen Helfern abzusetzen. Ein anderes war die Einsicht in die deutschen Traditionen, an die der Nationalsozialismus angeknüpft hatte, und in die eigene Verantwortung für das, was seit 1933 in und durch Deutschland geschehen war.
Der Philosoph Karl Jaspers, den das nationalsozialistische Regime 1937/38 mit einem Veröffentlichungsverbot belegt hatte, löste 1946 mit seiner Schrift «Die Schuldfrage», ursprünglich einer Heidelberger Vorlesung im Wintersemester 1945/46, neben zustimmenden Kommentaren auch eine Welle abwehrender Reaktionen aus. Jaspers sprach von einer «moralischen Kollektivschuld» im Sinne einer Haftung der Deutschen für die politischen Zustände während der Jahre 1933 bis 1945. «Daß in den geistigen Bedingungen des deutschen Lebens die Möglichkeit gegeben war für ein solches Regime, dafür tragen wir alle die Schuld.» Der Begriff «Kollektivschuld» genügte vielen, um Jaspers Willfährigkeit gegenüber den Alliierten vorzuwerfen. Daß der Autor eine deutsche Alleinschuld am Nationalsozialismus bestritt und das Ausland für den Erfolg Hitlers verantwortlich machte, daß er, die kurz zuvor erschienene Schrift «Die deutsche Frage» des emigrierten
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