Geschichte Hessens
jüdischen Berufszweigen wie eben dem Handel treu bleiben. Denn auch nach der vollständigen Emanzipation weigerten sich viele christliche Handwerksmeister, jüdische Lehrlinge auszubilden.
2. Wandlungen in Wirtschaft und Gesellschaft
Industrialisierung und Auswanderung.
Die politisch vor allem in Kurhessen und zusehends auch in Nassau angespannte Lage verband sich in den Jahren nach 1815 mit einer von wirtschaftlichen Aufbrüchen und sozialen Verwerfungen gleichermaßen gekennzeichneten gesellschaftspolitischen Situation. Später als in anderen deutschen und europäischen Ländern hatte die Industrialisierung in Hessen Einzug gehalten – die hessischen Mittelgebirgsregionen blieben bis weit ins 19. Jahrhundert hinein land- und forstwirtschaftlich geprägt, wobei auf vielen Höfen mit nicht selten weniger als drei Hektar bebaubaren Bodens der Lebensunterhalt einer Bauernfamilie kaum mehr erwirtschaftet werden konnte. Oftmals blieb den nachgeborenen Bauernsöhnen nur die Abwanderung in die industriellen Ballungszentren der Region – oder die Emigration nach Übersee, vorzugsweise nach Nordamerika.
Zentren der hessischen Auswanderung waren in der Mitte des 19. Jahrhunderts die wirtschaftlichen Notgebiete im Taunus, in der Wetterau und im Westerwald. Mißernten, verbunden mit einem überproportional hohen Bevölkerungswachstum, führten seit den 1830er Jahren zu teilweise katastrophalen Hungerkrisen und zu drückender Dauerarmut. Das Herzogtum Nassau galt damals in Deutschland als das Hauptauswanderungsland schlechthin. Dort, aber auch im benachbarten Großherzogtum Hessen-Darmstadt, kam es nicht selten zur Massenauswanderung ganzer Dörfer. Man hat errechnet, daß allein in Hessen-Darmstadt zwischen 1841 und 1846 etwa 16.500 Landeskinder ihre angestammte Heimat in Richtung USA verließen. Teilweise wurden die Auswanderungswilligen durch Reisekostenzuschüsse seitens der Darmstädter Regierung unterstützt. Und in Nassau übernahm der dort seit 1839 regierende Herzog Adolph zeitweise sogar eine führende Rolle in dem 1844 gegründeten «Texas-Verein», der die deutsche Auswanderung nach Nordamerika koordinieren sollte.
Frühe Industriestandorte.
Die Industrialisierung besaß in Hessen mehrere regionale Schwerpunkte und entwickelte sich vornehmlich aus Handwerksbetrieben, mechanischen Werkstätten und kleineren gewerblichen Unternehmungen. Eine Art Vorreiterrolle gewann hier das Herzogtum Nassau, was vor allem dem Aufschwung der Eisenindustrie in den Bergbau- und Hüttenrevieren des Lahn-Dill-Raumes seit Anfang der 1830er Jahre zu verdanken war. Zwischen 1828 und 1856 stieg die jährliche Förderung der dortigen Eisenerzgruben von 38.000 Tonnen auf fast 200.000 Tonnen. Als erstes deutsches Eisensyndikat konstituierte sich 1851 der «Verein zum Verkauf nassauischen Roheisens». Auch die Konzession zur Errichtung einer Anilin- und Anilinfarbenfabrik bei Höchst wurde 1862 durch die nassauische Landesregierung erteilt, denn Höchst lag damals noch auf dem Territorium des Herzogtums Nassau, ebenso wie Wiesbaden, wo die 1863 eröffnete «Allgemeine Nassauische Kunst- und Gewerbeausstellung» zahlreichen heimischen Betrieben die Gelegenheit bot, Erzeugnisse der gewerblichen Industrie einem breiten Publikum zu präsentieren.
Neben der nassauischen Lahn-Dill-Region mit ihren beträchtlichen Eisenerzvorkommen profilierte sich im Zeitalter der Industrialisierung vor allem Kassel als einer der frühesten hessischen Industriestandorte. Bereits 1710 hatte Landgraf Carl ein landesherrliches Gießhaus zur Herstellung von Glocken und Geschützen errichten lassen. 1836 übernahm der ehemalige kurhessische Oberbergrat Carl Anton Henschel (1780–1861) das landgräfliche Unternehmen und spezialisierte sich in der Folgezeit auf die Produktion von Dampfkesseln, Dampfmaschinen, Feuerspritzen und Kanonen. Seit 1848 wurden bei Henschel Lokomotiven hergestellt (bis 1996), das Kasseler Werk wuchs zur bedeutendsten Lokomotivenfabrik Kontinentaleuropas heran. Doch auch andere Industrieunternehmungen konzentrierten sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in der kurhessischen Haupt- und Residenzstadt: Papier-, Fässer- und Handschuhfabriken florierten in Kassel ebenso wie Produktionsstätten zur Weiterverarbeitung von Stoffen und Textilien.
Und selbstverständlich bezog die sich entwickelnde Industrielandschaft Hessens maßgebliche Impulse aus der Rhein-Main-Region, die infolge ihrer außerordentlich verkehrsgünstigen Lage im
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