Geschichte Hessens
gehören» (Schnack, S. 12). Merklich anders als Jacob Grimm hatte dagegen nur wenige Jahre zuvor der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe seine hessische Heimat beschrieben. Die Worte aus dem Versepos «Hermann und Dorothea» galten freilich nicht dem eher kargen Norden des Landes, sondern den unzweifelhaft lieblicheren südlichen Gefilden im Rheingau und an der Bergstraße: «Und nun ging ich heraus und sah die herrliche, weite Landschaft, die sich vor uns in fruchtbaren Hügeln umherschlingt, sah die goldene Frucht den Garben entgegen sich neigen und ein reichliches Obst uns volle Kammern versprechen» (IV, 77ff.).
Solche gegensätzliche Einschätzungen, wie sie in den Worten Grimms und Goethes mit Blick auf ihren gemeinsamen Herkunftsraum zum Ausdruck kommen, markieren die Spannweite, innerhalb der sich Landschaft und Historie Hessens bewegen, und die auch dieses Buch auszumessen versucht. Sein Verfasser, weder in Hessen geboren noch dort lebend, hat die Geschichte des Landes aus der Perspektive dessen nachgezeichnet, der in der Entwicklung der Territorialstaaten ein zentrales Element deutscher und europäischer politischer Identitätsformung erblickt – ein Element, das die Vielfalt regionaler Ausdrucksmöglichkeiten ebenso bündelt, wie es deren gewachsene Traditionen eindrucksvoll widerspiegelt. Kaum ein Beobachter hat diesen Sachverhalt stimmungsvoller umschrieben als der Darmstädter Schriftsteller Kasimir Edschmid 1967 in einem literarischen Porträt seines Heimatlandes. Hessen habe, so meinte Edschmid damals, «in seinem Süden noch etwas vom Licht des Mittelmeeres, und im Norden spiegelt es schon herb die Farben, die auch über der Nordsee liegen. Und die Übergänge von einem Klima zum anderen, landschaftlich wie geistig, sind originell. … Es sind kaum gegensätzlichere Landschaften vorstellbar,und dennoch umgibt sie eine besondere hessische Atmosphäre» (Edschmid, S. 11, 29).
Das Buch erscheint im Umfeld des Landesjubiläums anläßlich der 60 jährigen Wiederkehr der Gründung Hessens 1945 und der Verabschiedung seiner Verfassung 1946. Daran zu erinnern, dürfte nicht unpassend sein. Bei der Erstellung der Textvorlage und des Registers erfuhr der Verfasser maßgebliche Unterstützung und Hilfestellung von seinen Chemnitzer Mitarbeiterinnen Patricia Otto, Katja Rosenbaum, Annekathrin Lehmann und Kristin Lesch. Ihnen sei an diesem Ort ebenso nachdrücklich gedankt wie Dr. Claudia Althaus für die engagierte und wohlwollende Projektbegleitung seitens des Verlages.
Die überraschend schnell erforderliche zweite Auflage des Buches bietet einige sachliche Korrekturen, inhaltliche Ergänzungen und bibliographische Aktualisierungen. Verfasser und Verlag hoffen, daß auch diese revidierte Fassung den Lesern Wege zum Verständnis der Geschichte und Kultur einer deutschen Landschaft in Europas Mitte ebnen und weiterhin dazu beitragen möge, aktuelle Gegenwartsfragen vor dem Hintergrund historischen Tatsachenwissens schärfer zu profilieren.
I. Ursprünge
1. Vor- und frühgeschichtliche Zeugnisse
Steinzeit
. Die Anfänge menschlicher Lebensregungen auf dem Gebiet des heutigen Landes Hessen bewegen sich im Dämmerlicht der Vorgeschichte. Erste archäologische Zeugnisse stammen aus der Altsteinzeit (ca. 500.000 v. Chr.). Fundplätze in der stets eisfrei gebliebenen Wetterau und im Schwalm-Eder-Gebiet belegen eine dort entwickelte Steinindustrie. Die Epoche der Mittelsteinzeit (ca. 8000–5000 v. Chr.) war auch in Hessen durch eine Jäger-, Fischer- und Sammlerexistenz der damals dort lebenden Bewohner charakterisiert und ist durch Bodenfunde um Arolsen und Hofgeismar, im Vogelsberggebiet und im Mündungsraum des Mains nachgewiesen. An ihrem Ende, im Übergang zur Jungsteinzeit (ca. 5000–1800 v. Chr.), wandelte sich die menschliche Lebensweise von unstetem Umherschweifen zur Seßhaftigkeit, verbunden mit der Aufnahme von Ackerbau und Viehhaltung und mit der Anlage dorfartiger Siedlungen, die bereits feste Häuser und Höfe besaßen. Frühe Bauernkulturen dieser Art gab es auf hessischem Boden im unteren Lahntal, im Rhein-Main-Gebiet, im Amöneburger Becken und in der Gegend um Fritzlar. Das dort ergrabene Fundgut gehört zur Gruppe der Bandkeramik, die ihren Namen den bandförmigen Ornamenten der Tonkeramik verdankt. Alle steinzeitlichen Entwicklungsetappen weisen die Region als einen Durchgangsraum im Schnittpunkt geographischer Linien aus, deren spezifische Beschaffenheit den Austausch von
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