Geschichte Hessens
mein vierter Bruder, der von uns hernach am frühesten und längsten im Ausland leben mußte, als Kind auf der hessischen Land-Carte alle Städte größer und alle Flüsse dicker malte …» (Heidenreich 2003, S. 17). Während ihrer seit 1802/03 in Marburg gemeinsam verbrachten Studienzeit waren die Grimms in Verbindung zum dortigen Romantikerkreis getreten. Bereits damals betrieben die späteren Mitbegründer der modernen Germanistik frühe Überlegungen zur Sammlung und Aufzeichnung von Sagen und Märchen,deren erste Ausgabe 1812 erschien und der hessischen Volkstradition zahlreiche Anregungen verdankte. Durch ihre Märchenedition, ihre volkskundlichen Studien und ihre Untersuchungen zur deutschen Sprache und Literatur haben Jacob und Wilhelm Grimm die Entfaltung eines Bewußtseins regionaler und nationaler Identität in Hessen und ganz Deutschland ebenso maßgeblich mitgeformt, wie der ihnen freundschaftlich verbundene Rechtsgelehrte Friedrich Carl von Savigny (1779–1861), der ab 1803 als Professor in Marburg die kritische Methode der vom Lebensgefühl der Romantik durchdrungenen Historischen Rechtswissenschaft populär machte. Savigny wiederum war mit der Familie Brentano verwandt, deren Wirken in Frankfurt, Darmstadt und Wiesbaden für das intellektuelle, wissenschaftliche und politische Leben Hessens im 19. und 20. Jahrhundert von großer Bedeutung gewesen ist. Dies galt besonders für das Geschwisterpaar Clemens (1778–1842) und Bettina Brentano (1785–1859) als repräsentative Verkörperungen romantischen Dichtertums. Spätromantischen Charakter besaß auch die Musikpflege am Kasseler Hof. Dort wirkte seit 1822 (und bis 1857) der anerkannt beste deutsche Violinist seiner Zeit: Louis Spohr (1784–1859), Hofkapellmeister in kurfürstlich hessischen Diensten, unter dessen Leitung die Kasseler Oper ihre größte Blütezeit erlebte.
Einen eigenen Akzent im intellektuellen Leben des 19. Jahrhunderts, der von der eher romantisch gestimmten Atmosphäre Marburgs und Kassels deutlich abwich, setzten die Studenten der hessen-darmstädtischen Landesuniversität Gießen. Der Schriftsteller Friedrich Christian Laukhard (1758–1822), ein Freund amouröser Zweideutigkeiten, hatte im Rückblick auf seine Gießener Studienzeit in den 1770er Jahren die damals in der Universitätsstadt vorherrschende Atmosphäre auf wenig vorteilhafte Weise beschrieben. «Schlägereien», so berichtete Laukhard in seinen Lebenserinnerungen, «sind in Gießen gar nicht selten. So klein die Universität ist, so viel Balgereien fallen vor. … Bordelle gibt es in Gießen nicht; aber doch unzüchtige Menschen und folglich auch – wie leider jetzt auf jeder Universität – venerische Krankheiten. Sonderbar ist es, daß dergrößte Teil der infizierten Studenten gerade Theologen … sein sollen …» (Sarkowicz 1988, S. 177). Ein halbes Jahrhundert später dominierte in Gießen vielleicht nicht unbedingt eine andere studentische Lebensart, wohl hingegen ein erheblich gewandeltes politisches Bewußtsein vieler akademischer Adepten. Unmittelbar nach 1815 machten hier die radikalen Anhänger der burschenschaftlichen Bewegung um das revolutionäre Brüderpaar Adolf (1794–1855) und Karl Follen (1796–1840) von sich reden. Als Anführer einer konspirativen Gießener Studentenverbindung, deren Mitglieder stets schwarz gekleidet, in «altdeutscher» Tracht, auftraten, gehörte Karl Follen zu den entschiedensten Befürwortern eines zentralistisch geführten nationalen Einheitsstaates. Aus verwandtem Geist entstand einige Jahre später die von Georg Büchner (1813–1837) in Gießen 1834 gegründete «Gesellschaft für Menschenrechte». Sie stand bereits ganz im Zeichen sozialrevolutionären Protests und verwies auf zunehmende ökonomische Bedrückungen, die seit Anfang des Jahrhunderts in weiten Teilen Hessens vorherrschten. Vielleicht war es kein Zufall, daß auch andere Schriftsteller, die, wie Büchner, der radikal-revolutionären Autorengruppe des «Jungen Deutschland» angehörten, aus Hessen stammten oder dort ihre Wirkungsstätte fanden – so Carl Ludwig Börne (1786–1837) oder Karl Gutzkow (1811–1878). Zur gleichen Zeit, als Büchner in Gießen seine revolutionäre Agitation entfaltete, begann dort der wissenschaftliche Aufstieg des berühmtesten und erfolgreichsten hessischen Naturforschers im 19. Jahrhundert: Justus Liebig (1803–1873), Erfinder des Chloroforms und Begründer der Agrikulturchemie, der bis zu seinem Weggang
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