Geschichte machen: Roman (German Edition)
finden, ja?«
Steve schüttelte den Kopf und schien langsam zu verzweifeln. »Mikey«, sagte er. »Auf dem Campus gibt es über elf Millionen Bücher, und die meisten davon stehen hier.«
»Und ich hab einen Leseausweis, ja?«
Er nickte düster und resigniert und drückte die Tür auf.
»Geschichte«, zischte ich ihm zu, als wir auf den wuchtigen Informationstisch zusteuerten. »Wo steht die europäische Zeitgeschichte?«
»Wahrscheinlich ist es das beste, wir buchen eine Lesenische«, lautete seine Antwort.
»Eine was?«
»Na, du weißt schon, eine Lesenische …«
Ich schüttelte verständnislos den Kopf.
»Eine Kabine«, sagte Steve gereizt und nahm sich einen Papierstreifen vom Tisch. »Ein Privatzimmer zum Arbeiten. Eine Lesenische. Wie zum Teufel würdest du das denn nennen?«
Nachdem wir eine Stunde lang von Bürohengsten aufgehalten worden waren und flüsternd die Regale durchstöbert hatten, fanden wir uns endlich in einer solchen Lesenische wieder: einem kleinen Kabuff mit Tisch, Stuhl und geschmackvollen Stichen von Princeton im 18. Jahrhundert an den Wänden. Vor mir auf dem Tisch lag unser Hort von zwölf Büchern. Ich setzte mich, griff nach einer
Chronik der Weltgeschichte
, holte tief Luft und schlug unter H wie »Hitler« nach.
Nichts.
»Du kannst ruhig gehen«, meinte ich über die Schulter zu Steve.
»Schon in Ordnung«, meinte er, setzte sich im Lotussitz in eine Ecke und legte sich eine illustrierte Militärgeschichte über die Knie. »Mensch, vielleicht lern ich noch was.«
Ich weiß nicht, ob er etwas lernte. Ich war zu sehr in Gedanken, um darauf zu achten.
Ich schlug N wie »Nationalsozialismus« auf, starrte einige Zeit diesen fremdartigen neuen Namen an und schlug dann unter G wie »Gloder« nach. Meine Finger tasteten das Papier ab und blätterten vor, um zu sehen, wieviel Raum man diesem einen Mann gewidmet hatte. Siebzig Seiten unter verschiedenen Stichworten, jedes von einem anderen Historiker verfaßt. Der erste Artikel firmierte als chronologisches Biogramm.
Gloder, Rudolf. (1894–1966) Mitglied und später Vorsitzender der
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NSDAP , Reichskanzler und graue Eminenz des Großdeutschen Reichs von 1928 bis zu seinem Sturz im Jahre 1963. Staatsoberhaupt und Oberbefehlshaber der deutschen Streitkräfte, Führer des Deutschen Volkes. Geboren in Bayreuth (Bayern) am 17. August 1894 als einziger Sohn des Konzertoboisten und Musiklehrers
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Heinrich Gloder und seiner zweiten Frau
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Paula von Meißner und Groth . Rudolfs Mutter, die der Überzeugung war, unter ihrem Stande geheiratet zu haben, bestärkte den Jungen in dem Glauben, aristokratische Vorfahren zu haben. Über Paulas Beziehungen zur deutschen und österreichischen Aristokratie ist viel geschrieben worden (vgl. A. L. Parlange,
Gloder der Aristokrat
, Louisiana State University Press, 1972; Mouton / Grover,
Prinz Rudolf
?, Toulane, 1982), aber nur wenige Indizien stützen die These, daß seine Herkunft mehr als eine für jene Zeit typische bayrische Mittelstandsfamilie war. Während seines Aufstiegs zur Macht trug Gloder große Sorge, die Durchschnittlichkeit der Jahre hervorzuheben, die ihn geprägt hatten, und erwähnte gelegentlich Zeiten der Armut und Entbehrung, aber derlei Anspielungen sind mutmaßlich ebenso ins Reich der Fama zu verweisen wie seine spätere Behauptung, einer Nebenlinie des Habsburgergeschlechts anzugehören.
Rudolf legte zweifellos schon sehr früh Züge eines Wunderkindes an den Tag und entpuppte sich als begabter Musiker, Reiter, Künstler, Sportler und Fechter. Neben den für einen Gymnasiasten seiner Zeit obligatorischen Latein- und Griechischkenntnissen beherrschte er bereits mit vierzehn Jahren vier weitere Fremdsprachen. Die authentischen Berichte seiner Zeitgenossen schildern seine Beliebtheit bei Mitschülern und Lehrern, und die Zulassungspapiere der Münchner Militärakademie aus dem Jahre 1910 legen ein beredtes Zeugnis des hohen Ansehens ab, in dem der Sechzehnjährige bei all seinen Bekannten stand.
Bei Ausbruch des Großen Krieges 1914 trat Gloder als gemeiner Soldat dem 16. Bayrischen Reserve-Infanterie-Regiment bei – eine Entscheidung, die seine Mutter sehr bekümmerte und bei vielen seiner Freunde auf Unverständnis stieß.
Ich ließ das Buch sinken und starrte die Wand an. Das 16. Bayrische Reserve-Infanterie-Regiment. Lists Regiment. Hitler hatte dort gedient.
Seine eigene Darstellung der Jahre an der Front (
Kampfparolen
, München 1923, übs.
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