Geschichte machen: Roman (German Edition)
Eßzimmerfensters gedrückt und auf die Rückkehr seines Vaters gewartet hatte. Er erinnerte sich, wie die schwarze Limousine mit Standarten an beiden vorderen Kotflügeln in ihre Straße eingebogen war. Er erinnerte sich, wie die Kinder auf der anderen Straßenseite plötzlich nicht mehr weiterspielten. Sie ließen ihre Fußbälle fortrollen oder stellten sich bei ihren Fahrrädern in den Pedalen auf, um herüberzusehen. Er erinnerte sich, wie der Chauffeur herausgesprungen war und Papa den Schlag aufgerissen hatte. Er erinnerte sich an das Lachen, die Umarmungen und die Glückseligkeit, die noch wochenlang das ganze Haus erfüllten, bis sie dann für immer aus Münster fortgezogen waren.
»Der Führer hatte Großes mit uns im Sinn, Axi. Er wollte, daß Kremer und ich im Großmaßstab Braunauwasser herstellten. Irgendwo im verborgenen sollten wir die entsprechenden Produktionsanlagen errichten. Wir entschieden uns für ein abgelegenes polnisches Kleinstädtchen namens Auschwitz. Das Braunauwasser mußte natürlich unter allerhöchster Geheimhaltung und mit übermenschlicher Sorgfalt hergestellt werden. Jeder einzelne Glaskolben wurde numeriert, mit Wachs versiegelt und in ein Verzeichnis eingetragen. Sie waren Teil eines großangelegten Plans, unseres damals größten Plans, nachdem Rußland besiegt und ins Reicheingegliedert worden war. Europa hatte Frieden und war den Bolschewismus ein für allemal los. Nach den Worten des Führers sollte das Braunauwasser dazu dienen, ›das Reich zu reinigen, wie Herkules die Ställe des Augias gereinigt hat. Den ganzen Schmutz Europas werden wir fortspülen.‹ Für meinen Beitrag zu diesem epochemachenden Werk wurde mir im Jahr 1949 eine Baronie verliehen. Und die wirst du erben, Axel. In Kürze wird dein Titel lauten: Freiherr Bauer, Vernichter einer ganzen Menschenrasse. Möge Gott mir vergeben, mein Sohn. Möge Gott uns allen vergeben. Möge Jesus Christus Gnade mit mir haben.«
Zehn Minuten später drückte Axel auf den roten Knopf an der rechten Armstütze des Rollstuhls und durchschritt ruhig die Lücke in der Hecke. Er sah eine weißgekleidete Gestalt, die ihm über den Rasen entgegenlief.
»Stimmt etwas nicht, Herr Bauer?«
»Mein Vater … ich kann keinen Puls mehr feststellen. Ich glaube, er ist tot.«
Offizielle Geschichte
Im Schlaf sprechen
»Bauer starb im Juli 1989 in einem Berliner Altenheim«, sagte Brown. »Kremer, sein Vorgesetzter in ihrem kleinen Produktionsbetrieb, hatte schon fünfzehn Jahre vor ihm den Löffel abgegeben, aber wo, ist nicht ganz klar. Nun interessiert Sie natürlich brennend, woher wir das alles wissen. ›Junge, Junge, die Typen müssen ein paar echt gewiefte Spürnasen haben‹, denken Sie jetzt. Schön wär’s. Wir haben das alles von Professor Bauers Sohn Axel, der sich auf unsere Seite geschlagen hat. Ohne ihn würden wir ziemlich auf dem Schlauch stehen.«
Ich stippte den letzten Schokoladenkeks in den kalten Kaffee. Mein Vater betrachtete seine Hände, die er säuberlich auf der Tischplatte gefaltet hatte. Hubbard hatte die Augen geschlossen. Niemand beachtete mich, trotzdem versuchte ich, mir den in mir tobenden Gefühlssturm nicht anmerken zu lassen.
»Damit sind wir auch schon am Ende unserer Geschichte«, sagte Brown, trat ans Fenster und sah durch die dicken Samtvorhänge in die erste Morgenröte. »Vor zwei Jahren klopfte Axel beim amerikanischen Konsulat in Venedig an. Er nahm am Europäischen Physikkongreß teil und vertrat Cam… vertrat die Institution, an der er damals arbeitete, welche, spielt im Moment keine Rolle … Er bat bei uns um Asyl. Er arbeitete an einem Problem, auf dessen Lösung zufälligerweise auch unsere Wissenschaftler ganz versessen waren, deswegen hätten wir uns unabhängig von seiner Familiengeschichte alle Finger nach ihm geleckt. Aber im Grunde wollte er nur wegen seiner Schuldgefühle überlaufen. Er verkraftete es einfach nicht, der Sohn des Mannes zu sein, der die Juden vom Antlitz Europas gefegt hatte. Nachdem wirihn aus Italien herausgeschmuggelt und auf sicheren amerikanischen Boden gebracht hatten, spuckte er, unterbrochen von Weinkrämpfen und Haßtiraden gegen das Reich, die ganze Geschichte aus. Zeigte uns das Tagebuchoriginal des österreichischen Arztes und die ganzen Dokumente, die sein Vater aufbewahrt hatte. Es reichte, um uns davon zu überzeugen, daß alles wahr war, die ganze gräßliche Geschichte mit allem Drum und Dran.«
Mein Vater drückte das Kreuz durch und
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