Geschichte machen: Roman (German Edition)
ganzes Volk aus der Welt stranguliert hatten, drückten sie ihm jetzt mehr denn je die Kehle zu.
Und ich? Für Keanu Young, Dr. Trendy, war es ein blutroter Tag im Kalender. Der Geschichtssurfer, der durch die Brandung der Vergangenheit rauschte, die Zehen um den Brettrand gekrümmt, stets auf den Brechern von Zeit und Gezeiten. Warum hatte ich Leo überhaupt meine Mithilfe angeboten? Aus Arroganz? Anmaßung? Nein, es gab eine weit naheliegendere Erklärung. Dummheit. Es war schlicht Dummheit gewesen. Bestenfalls noch der süße kleine Bruder der Dummheit, Naivität. Oder aber Feigheit. Ich hatte zuviel Angst vor der Welt, in der ich lebte, warum also nicht eine andere erschaffen?
»Wir warten, Mikey«, Hubbard klopfte leise mit einem Bleistift auf den Tisch.
Ich holte tief Luft.
Es war ein Hasardspiel, aber ich hatte mich inzwischen an die Tricks der Geschichte gewöhnt und konnte mit ihnen bluffen.
Instinktiv wußte ich, wie der Hase lief.
»Ja, wissen Sie«, sagte ich. »Je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich, daß ich ihn mal getroffen haben muß.«
Brown sah mich freundlich an. »Wen getroffen, Cowboy?«
»Den Typ, von dem Sie die ganze Zeit reden. Oder nicht getroffen. Gesehen.«
Mein Vater schlug ungeduldig mit der flachen Hand auf den Tisch. »Welchen ›Typ‹, Michael? Drück dich bitte etwas klarer aus.«
»Diesen Axel Baum, oder wie der heißt.«
»Bauer? Axel Bauer? Sie wollen Axel Bauer getroffen haben?« Hubbards Stimme verriet plötzliche Erregung.
»Also, er muß es nicht gewesen sein«, sagte ich vorsichtig. »Aber anders kann ich mir das nicht erklären.«
»Wann haben Sie ihn getroffen?«
»Wo?«
Hubbard und Brown stellten ihre Fragen gleichzeitig. Ich schluckte. Jetzt standen meine Chancen fifty-fifty. Ich entschied mich für Hubbard, weil ich ihm am ehesten in die Augen sehen konnte.
»Wann? Weiß ich nicht mehr genau. Vor ein paar Wochen. Im Zug, New Jersey Transit. Ich war nach New York City unterwegs. Da saß mir ein Typ gegenüber. Wie gesagt, er muß es nicht gewesen sein. Was weiß ich, Ihr Typ hockt vielleicht an der Westküste …«
Die Geste hat etwas Abstoßendes, aber ich hätte fast wie Macauley Culkin die geballte Faust gereckt und
Ja!
geschrien. Denn dem Ausdruck, oder besser, der Ausdruckslosigkeit von Hubbards Miene war zu entnehmen, daß ich den Nagel auf den Kopf getroffen hatte. Man hatte Leo in Princeton eine neue Existenz aufgebaut. Ich konnte ihm alsoohne weiteres in einem Zug der New Jersey Transit Company begegnet sein. Es war keineswegs ausgeschlossen.
»Verstehe ich Sie richtig? Sie haben sich im Zug von Princeton nach New York City mit Axel Bauer unterhalten?«
»In keinster Weise. Wir haben kein einziges Wort gewechselt, soweit ich mich erinnern kann. Er hat die ganze Fahrt über geschlafen. Aber er hat … na ja, er hat eben gesprochen.«
Brown zog die Augenbrauen hoch.
»Ich weiß, es klingt verrückt«, sagte ich. »Ich war selber hin und weg. Ich habe noch nie gehört, wie jemand im Schlaf spricht. Ich meine, in richtigen Sätzen. Wir waren allein, niemand saß in unserer Nähe, und da hab ich angefangen mitzuschreiben, wissen Sie? Ich fand das einfach cool.«
»Kühl? Wie meinen Sie das?«
»Bitte? Ach ’tschuldigung, das ist so ein neuer Slangausdruck. Ich fand das echt nett und hab gedacht, vielleicht läßt sich was draus machen. Schließlich studier ich Philosophie, ne? Also hab ich einige Begriffe mitgeschrieben.«
Ich spürte, daß Hubbard Brown ansehen wollte und daß Brown nicht wollte, daß er sich zu ihm drehte und sich Schwächen oder Zweifel anmerken ließ.
»Und als ich abends wieder auf dem Campus war, hab ich im Wohnheim angefangen, mit diesen Wörtern rumzuspielen. Ich hatte ja genug davon. Marter war eins davon, vielleicht auch ein Frauenname, Marthe oder so. Münster hat er erwähnt, wie der Käse, wissen Sie? Nazi, Hitler. Aber ich bin ziemlich sicher, daß er Adolf gesagt hat, nicht Alois, oder was Sie vorhin meinten. Ich erinnere mich jedenfalls an Adolf, aber das ist sowieso schwer zu sagen, der Typ schlief schließlich. Und wir saßen ja auch noch im fahrenden Zug. Dann hat er Perltsl erwähnt. So klang es jedenfalls. Braunau am Inn, das kam immer wieder. ›Was geschah in Braunau am Inn in Oberösterreich?‹ Wahrscheinlich hab ich’s deswegenvon Anfang an für einen Ortsnamen gehalten. Das hat er immerzu wiederholt. Dann hat er noch was gesagt, was wie Schicklgruber klang, aber das sagt Ihnen
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