Geschichte machen: Roman (German Edition)
sah an die Decke. »Warum wurde diese Angelegenheit nie publik gemacht? Warum hat man die Weltöffentlichkeit nicht unverzüglich unterrichtet? Meines Erachtens wäre allein der Propagandawert …«
»Wäre was, Oberst Young? Das ist Geschichte. Das ist doch alles längst verjährt. Was geschehen ist, ist geschehen. Das klingt hart, ist aber die bittere Wahrheit. Soweit wir wissen, sind alle Verantwortlichen tot. Europa hat sich verändert. Unser Verhältnis zu Europa hat sich verändert. Was hätte die Welt davon, wenn wir diese Information an die große Glocke hängen würden? Sämtliche Juden in Amerika und Kanada würden natürlich Zeter und Mordio schreien. Die Liberalen und Intellektuellen würden ihr Mäntelchen nach dem moralischen Wind hängen und Vergeltung fordern. Und dann? Entweder Armageddon oder ein hochnotpeinlicher Rückzieher. Was wäre damit gewonnen? Das ist Geschichte. Über das Ganze ist längst Gras gewachsen. Genausogut können Sie wegen des schwarzen Lochs von Kalkutta Stunk machen oder wegen der Hexenprozesse von Salem.«
Mein Vater nickte kurz. Er wollte sich nichts anmerken lassen, aber ich sah, daß er die Schultern hängen ließ und daß seine Augen etwas Müdes bekamen. Sein Stolz erlaubte es ihm wahrscheinlich nicht, sich über das Hickhack des politischen Alltags aufzuregen, und so beschränkte er sich auf erschöpftes Resignieren. ›Meinetwegen, es ist eure Welt, ich überlasse sie euch und eurer Generation.‹
»So«, sagte Brown, »jetzt kommen wir zum netten Teil der Geschichte zurück. Ich habe das Tagebuch von Horst Schenck, dem österreichischen Arzt, gelesen. Aber Mr. Hubbard hier hat es nicht gelesen, oder, Tom?«
Hubbard schüttelte den Kopf.
»Der Direktor meines Dienstes hat es gelesen. Axel Bauer, der jetzt unter neuem Namen für uns arbeitet und auf Rache an allem Europäischen sinnt, hat es uns mitgebracht, und Sie können wetten, daß wir es gelesen haben. Der Präsident der Vereinigten Staaten durfte einen Blick auf eine sauber getippte Zusammenfassung werfen … das gehört sich nun einmal so. Aber schon der Vizepräsident ist ahnungslos, was dieses Höllenteil angeht. Dasselbe gilt für den Außenminister. Soweit ich weiß, haben im ganzen Land überhaupt nur zwölf Leute von Horst Schencks Tagebuch gehört. Also sollten Sie, Mikey, uns endlich erzählen, wie es kommt, daß Sie gestern nachmittag im Gespräch mit Ihrem Freund Mr. Steve Burns demselben Provinzkaff Braunau am Inn, wo die ganze Geschichte ins Rollen kam, soviel Bedeutung beigemessen haben. Wie kommt es, daß Sie die Namen Pölzl und Hitler kannten, ausgerechnet die Namen des ersten Paars, das damals im Jahre 1889 Doktor Schenck aufsuchte. Und Auschwitz, wo Bauer und Kremer 1942 eintrafen. Woher wissen Sie das alles? Ich finde, wir haben ein Recht, das zu erfahren. Oder sehen Sie das anders?«
Jetzt sahen mich alle an.
Was konnten sie mir schon anhängen? In ihren Augen beschränkte sich mein Verbrechen auf die Lappalie, über vertrauliche Informationen gestolpert zu sein. Sie hielten mich nicht ernsthaft für einen präparierten Clon von Michael Young, den man nach Princeton eingeschleust hatte, um die Regierung der Vereinigten Staaten auszuspionieren. Das war ja auch kaum zu glauben. Geradezu undenkbar. Auf die eigentliche Wahrheit, die noch viel undenkbarer war, wären sie in Millionen Jahren nicht gekommen. Jene entsetzlicheWahrheit, deren Monstergestalt sich gerade erst in meinem Gefühlstohuwabohu abzeichnete. Jene entsetzliche Wahrheit, daß ich, Michael Young, die Wasser von Braunau vergiftet hatte. Daß ich, Michael Young, für den Genozid verantwortlich war. Eher hätten sie mir geglaubt, daß ich ein Android aus einer anderen Galaxis oder ein Schamane mit paranormalen Kräften war, dem Horst Schencks Tagebuch im Traum erschienen war. Alles hätten sie mir eher abgekauft als die Wahrheit.
Mich beschäftigte auch gar nicht, was ich Hubbard oder Brown erzählen sollte. Mich beschäftigte vielmehr, was sie mir gerade erzählt hatten. Was sie mir über Leo erzählt hatten, oder Axel, oder wie er hier auch heißen mochte.
Unsere Tat – und jetzt erkannte ich, daß wir sie begangen hatten, um Leo von seinen gräßlichen Schuldgefühlen zu befreien, nicht etwa aus Altruismus oder sonstwelchen humanitären Motiven –, unsere Tat hatte keineswegs die Fangarme der Geschichte gelockert, die ihn in unserer alten Geschichte so gnadenlos umklammert hatten. Im Gegenteil, da diese Fangarme ein
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