Geschichte machen: Roman (German Edition)
Freund haben. Ach was, Dutzende. Hunderte. Sie werden dir die Bude einrennen. Du kannst die serielle Monogamie neu erfinden. So ein süßer Junge wie du. Du wirst sie schon in den Griff kriegen … irgendwie.«
»Aber sie werden nicht
du
sein, oder?«
»Bitte, meine Herren«, sagte Leo, der diesen Wortwechsel mit wachsender Ungeduld verfolgt hatte. »Es wird bald hell. Wir könnten gesehen werden.«
Steve umarmte mich und verschwand in den Schatten.
»Er mag mich sehr, wissen Sie«, erklärte ich Leo.
»Ich brauche meine Brille nur zum Lesen«, erwiderte er elliptisch. »Haben Sie die Ratten?«
»Ja«, sagte ich und zeigte ihm die Schachtel.
Als er auf dem Kontrollfeld am Eingang den Sicherheitscode eingab, wanderten meine Gedanken zu jenem Abend vor dem New-Cavendish-Labor zurück, als ich mit dem Fahrrad und den kleinen orangefarbenen Pillen in der Hosentasche durch die Gegend gerast war, um mich unter den Sternen von Cambridge mit ihm zu treffen.
Schweigend ging Leo zum Aufzug vor, dessen keuchendes Summen mir in der Totenstille ohrenbetäubend laut vorkam. Im zweiten Stock folgte ich ihm durch ein Labyrinth von Korridoren, bis wir schließlich vor einer Tür stehenblieben.
»Wie zum Teufel sind Sie bloß auf den Namen Chester Franklin gekommen?« flüsterte ich und zeigte auf das Namensschild an der Tür.
»Das war Hubbards Vorschlag«, antwortete er, und die Tür öffnete sich klackend.
Drinnen sah man die Hand nicht vor Augen. Ich wagte in der Dunkelheit keinen Schritt und hörte, wie Leo die Jalousien herabließ. Endlich schaltete er das Licht an, ich blinzelte und sah mich um.
Wie ein Seelöwendompteur deutete er auf einen Hocker. »Setzen Sie sich«, sagte er. »Bitte verhalten Sie sich still, sonst kann ich mich nicht konzentrieren.«
Ich setzte mich brav und sah ihm schweigend zu.
Es gab einen Tim oder zumindest eine Maschine, die gewisse Ähnlichkeiten mit Tim aufwies. Hier war das Gehäuse weiß mit einem zarten Blaustich. Vielleicht war das auch eine optische Täuschung, denn die Deckenbeleuchtung schien alles in leichtes Blau zu tauchen.
Die Maschine hatte keine Maus, statt dessen ragte an der Seite ein Joystick hoch wie ein Lutscher. Der Bildschirm war größer, und eine Tastatur war nirgends zu sehen. Statt des Kabelsalats liefen hinten Plastikschläuche in das Gerät wie bei einem intravenösen Tropf.
Plötzlich schoß mir ein schrecklicher Gedanke durch den Kopf, und ich bekam eine trockene Kehle.
Angenommen, die Nazis hatten den Nullmeridian von Greenwich abgeschafft?
Als wir draußen im Wald über Braunau gesprochen hatten, hatte mich Leo nicht nach den Koordinaten gefragt.
Genau wie ich es von meinem Leo kannte, hatte auch dieser Leo damals vor sechs Jahren zunächst die Fabrikationsanlagen seines Vaters in Auschwitz vernichten wollen. Aber dann hatte er befürchtet, daß das nicht reichen würde, und ein Attentat auf Rudolf Gloder ins Auge gefaßt. Er hatte nicht gewußt, wie er das bewerkstelligen sollte, aber obwohl er aus prinzipiellen Erwägungen gegen Mord war, hatte er mit der Idee gespielt, eine Bombe zu einem frühen Parteitag der Nazis zu schicken. Auch dieses Projekt hatte jedoch noch zu viele Unwägbarkeiten. Als nächstes überlegte er, Braunauwasser nach Bayreuth zu schicken, um Gloders Geburt zu verhindern. Das wäre eine hübsche Ironie gewesen, fand er. Sein Problem war nur, daß kein Braunauwasser mehr existierte. Und falls es doch noch irgendwo welches gab, dann wußte er nicht wo, und fragen konnte er ja schlecht.Dann erfuhr er von einem Kollegen in Cambridge, daß man im amerikanischen Princeton an einem Präparat für Empfängnisverhütung arbeitete. In Europa war alle Forschung auf diesem Gebiet aus »ethischen« Gründen verboten, eine scheinheilige Ironie, aber das Makabre daran hatte Leo niemandem je demonstrieren können. Daraufhin hatte er – logisch und unbeirrbar wie eh und je – beschlossen, sich in die Vereinigten Staaten abzusetzen. Er war wirklich in jeder Hinsicht mein guter alter Leo. Dieselbe erdrückende Last ererbter Schuld und dieselbe fanatische Überzeugung, er könne und müsse die Schuld seines Vaters sühnen.
Nachdem er sich in Princeton eingelebt hatte, stellte er jedoch fest, daß er seine privaten Nachforschungen nur unter erschwerten Bedingungen fortsetzen konnte. Die hiesigen Regierungsbehörden erwarteten von ihm die Entwicklung einer Quantenwaffe, mit der Amerika endlich einen endgültigen Rüstungsvorsprung vor Europa
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