Geschichte machen: Roman (German Edition)
erwogen, alle Züge durchdacht und sich auf jede Eventualität vorbereitet haben. Natürlich ist es lebenswichtig, auf unerwartete Zwischenfälle flexibel reagieren zu können; gewiß sind Phantasie und Tatkraft nützliche Waffen im Arsenal eines jeden großen Strategen, aber man darf
nur im Notfall
zu ihnen greifen – der tödliche Fehler besteht im unbegründeten Handeln und in der vorschnellen Umsetzung unzureichend analysierter Einfälle. Das lehrt uns die Betrachtung verschiedener Gestalten der Weltgeschichte. Die meisten Menschen wären überrascht, wenn sie erführen, wie minutiös große Feldherren planten. Vorige Woche habe ich beispielsweise eine Darstellung des englischen Admirals Horatio Nelson und seiner Strategiesitzungen vor der großen Seeschlacht bei Trafalgar gelesen. Seine Offiziere, die ihn abgöttisch liebten, trieb er fast zum Wahnsinn, weil er darauf bestand, seine Pläne ein ums andere Mal durchzugehen. Er rührte sich nicht vom Fleck, solange er nicht sicher war, daßjeder einzelne Offizier der Flotte das große Ziel und die eigentliche Bedeutung seiner Strategie nachvollziehen konnte und beherzigen würde. Dann erst begann er mit der mühsamen Erklärung aller taktischen Variationen. »Wenn dies, dann das« und so weiter, verzweigte sich in ein Dutzend weitere Wenns und Danns, bis Hunderte von Szenarien von vorn bis hinten durchgekaut worden waren. Als die Schlacht begann, war Nelson die Ruhe selbst und überraschte seine Untergebenen durch die scheinbare Gleichgültigkeit, mit der er jede Kanonade und jede Breitseite aufnahm. Kein Wunder! Jede Kanonade und jede Breitseite war ja erwartet und im voraus berechnet worden. Selbst als Nelson seine tödliche Verwundung erlitt, verlor er nicht die Ruhe. Auch diese Eventualität war ja in Erwägung gezogen worden, und Alternativpläne konnten unverzüglich in Aktion treten. Er starb in dem Wissen, daß seine Seite siegen würde. Natürlich gebrach es ihm an Stolz, Zuversicht und Souveränität auf dem spiegelglatten Parkett der Politik, und er hätte es nie weiter als bis zum Admiral gebracht, aber den wenigsten Männern ist es vergönnt, sämtliche Eigenschaften in sich zu vereinen, deren es bedarf, um in Kriegs- wie in Friedenszeiten die Menschen zu führen.
Ich folgte also nicht meinem Instinkt – obwohl es mich in den Fingern juckte –, bevor ich nicht alle Einwände entkräftet hatte. Ich zweifelte nicht an der Möglichkeit, Schmitt zu erreichen, ihn mitten im Niemandsland zu erledigen und mit den beiden Trophäen unversehrt zurückzukehren. Aber bei näherer Betrachtung merkte ich, wie dumm das gewesen wäre. Es war sicherer, ihn zu erledigen, im Schutz der letzten Dunkelheit mit leeren Händen zurückzukehren und mich erst, wenn es taghell war, erneut zu ihm zu begeben und alles vor den Augen meiner Kameraden zurückzubringen. Sie konnten mir Deckung geben, und schlimmstenfalls konnte ich die verräterische deutsche Kugel aus seinem Rücken entfernen, bevor andere die Leiche zu Gesicht bekamen.
An diesen Plan hätte ich mich wohl auch gehalten, wenn Schmitt bei der ganzen Angelegenheit eine halbe Stunde schneller gewesen wäre. Aber inzwischen war es schon zu hell, um den Vorstoß noch zu riskieren, sowohl was meine eigene Sicherheit anging als auch die Gefahr, aus den eigenen Schützengräben beobachtet zu werden. Ich verfluchte sein schwerfälliges Vorankommen. Warum war er so spät aufgebrochen? Ich weiß, wenn ich mich auf eine solche Expedition begeben hätte, dann hätte ich nicht so lange getrödelt. Ich wäre längst wieder sicher daheim gewesen.
Auch Schmitt mußte aufgegangen sein, daß die Zeit knapp wurde. Plötzlich schob er nämlich den Kopf über den Trichterrand, griff nach Schwert und Helm und lief geduckt los. Er war vielleicht zehn Meter weit gekommen, als ich leises Gewehrfeuer hörte und genau in Abschnitt K Mündungsfeuer aufblitzen sah. Monsieur war aufgewacht und hatte seinen Verlust entdeckt. Und Monsieur war ein guter Schütze. Schmitt warf die Arme hoch, fiel in den Dreck und streckte alle viere von sich.
Ich konnte mein Glück kaum fassen. Manchmal ist die Vorsehung wirklich gütig.
Jetzt mußte ich nur noch den Sonnenaufgang abwarten.
Eine Stunde später vernahm ich die ersten Regungen in unseren Schützengräben. Das übliche Furzen, Grummeln und Stöhnen, dann das Pfeifen der Offiziersburschen und Putzer, die ihren Vorgesetzten Kaffee und Wasser zum Rasieren brachten. Bald mußte Schmitts Leiche
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