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Geschichte machen: Roman (German Edition)

Geschichte machen: Roman (German Edition)

Titel: Geschichte machen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Fry
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Philosophen getroffen oder gelesen, die sich meisterhaft auf die reineVernunft verstanden, aber dafür ging ihnen jegliches praktische Wissen um Hirschjagd oder Ackerbau ab. Welchen Nutzen hatte es denn, wenn man Pi bis auf die vierhundertste Stelle hinter dem Komma bestimmen oder die Phänomenologie des Geistes reflektieren konnte, aber außerstande war, sich mit einem Landwirt auf die beste Zeit zu verständigen, zu der das Vieh von den Hochalmen ins Tal getrieben werden mußte, oder mit einem Freund in unbeschwerter Runde zwei Huren auszuwählen? Und welchen Nutzen hatte die Fähigkeit, sich Zugang zum Sinnen und Trachten der Massen zu verschaffen, wenn man andererseits nicht von Isoldes Tod zu Tränen gerührt werden konnte, wo sich menschliche Liebe auf den höchsten Gipfel reiner Kunst emporschwang und sich dann in reinen Geist und transzendentales Nichts verwandelte? Solche Fragen beschäftigten Gloder.
    Er erhob sich, ging zur Tür und sah in die angrenzende Schlafkammer. Hans Mend lag ausgestreckt auf dem Bett, seine blicklosen Augen starrten an die Decke, als versuche er, sich eine Kindheitserinnerung zu vergegenwärtigen oder eine schwierige Addition im Kopf durchzuführen.
    Gloder machte sich keine Vorwürfe, daß er so leichtsinnig gewesen war, sein Tagebuch in einer unverschlossenen Schublade aufzubewahren. Die Zeit, die für Selbstvorwürfe draufging, verwendete man besser darauf, den eigenen Wissensdurst zu löschen. Sein Fehler hatte keine fatalen Folgen gehabt, und er würde ihn nicht noch einmal machen. Er konnte ihn sogar zu seinem Vorteil ummünzen. Sein neues Tagebuch (die Reste des alten schwelten im Kamin) sollte regelrecht entdeckt werden.
    Mends Schock, sich in ihm getäuscht zu haben, war so immens, daß Rudi eine gewisse Befriedigung nicht verhehlen konnte. Dieser Mann hatte nur darum eine so tiefe Kränkung erfahren können, weil er zuvor mit Leib und Seele an Hauptmann Rudolf Gloder und seine Rechtschaffenheit geglaubt hatte. Mend war keineswegs ein dummer Soldat gewesen,und wenn er sich bereits so hemmungslos der Verehrung hingeben konnte, wie mußte es dann erst um die Neandertaler unter den Mannschaften stehen?
    Der entscheidende Augenblick war nicht frei von Komik gewesen.
    »Ich hoffe, du unterhältst dich bei deiner Lektüre«, hatte Rudi von der Tür aus gesagt und sorgfältig den besten Moment für seine Bemerkung abgepaßt, wie ein Komödiant, der seine Pointe weder zu früh noch zu spät anbringen darf.
    Entsetzt war Hans aufgesprungen wie ein Schulbub, den man über den schlüpfrigen Stellen der Anakreontiker ertappt hat.
    »Hat man dir nie beigebracht, daß es unhöflich ist, das Tagebuch eines Menschen zu lesen, ohne ihn vorher um Erlaubnis zu fragen?«
    Er hatte den Eindruck, der arme Hans müsse eine volle Minute vor ihm gestanden haben, mit bebenden Lippen und kalkweißem, von Zorn und Furcht verzerrtem Gesicht. Rudi wußte, daß sie sich in Wirklichkeit kaum drei Sekunden so angesehen hatten, aber in solchen Situationen war die Zeit immer ungezogen. Selbst in dieser angespannten Lage hatte Rudi noch an die Philosophie Henri Bergsons und seinen Zeitbegriff der Dauer denken müssen.
    In diesem kurzen Augenblick war er zu Hans hinübergegangen und hatte seelenruhig nach dem Tagebuch gegriffen.
    »Ich muß mich dafür entschuldigen, daß dieses Werk jegliche ästhetische Durchformung vermissen läßt, lieber Mend«, hatte er wie ein müder Altmeister der Wissenschaft gesagt. »Die Zwänge des Krieges, verstehst du? Im Angesicht der Kanonen fällt höchste literarische Eleganz schwer. Wie ich sehe, bist du mitnichten beeindruckt.«
    Er hatte das Tagebuch mit seinem geprägten Kalbsledereinband an sich genommen, Mend den Rücken gekehrt, war zum Kamin gegangen und hatte es hineingeworfen. Dann hatte er es mit Paraffin übergossen und ein brennendesStreichholz darangehalten. »Ein hartes Urteil«, hatte er geseufzt, Mend noch immer keines Blickes würdigend, obwohl er seinen schweren Atem hinter sich hörte, »aber zweifellos gerechtfertigt.«
    Er schürte die brennenden Seiten mit der Spitze seines spiegelblank polierten Stiefels, drehte sich um und sah Mend mit der Luger in der Hand auf sich zukommen.
    »
Teufel!
«
    Mend brachte nur ein heiseres Flüstern heraus.
    »Ich befleißige mich hoffentlich keiner übertriebenen Beachtung der pedantischen Regeln und Bräuche, die uns hier an der Front das Leben schwermachen«, sagte Rudi, »aber ich kann mir die Bemerkung nicht

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