Geschichten aus dem Ringwelt-Universum
Bestattungsunternehmen waren dagegen machtlos. Doch die Geschenke der Toten erfüllten oft nicht mehr ihren Zweck.
1993 erließ Vermont als erster Staat Gesetze über Spenden an die Organbank. Vermont hatte nie die Todesstrafe abgeschafft. Jetzt wußte ein zum Tode Verurteilter, daß er durch seinen Tod das Leben anderer retten würde. Jetzt war die Ansicht entkräftet, daß die Hinrichtung keinen sinnvollen Zweck erfüllte. Zumindest in Vermont.
Später erließ Kalifornien ein ähnliches Gesetz. Dann Washington, Georgia, Pakistan, England, Schweiz, Frankreich, Rhodesien…
Das Gehband bewegte sich mit einer Geschwindigkeit von zehn Meilen in der Stunde. Lewis Knowles hing an den Gleitketten und sah ein Fenstersims unter sich. Das Sims war ungefähr sechzig Zentimeter breit und befand sich ein Meter zwanzig unter seinem großen Zeh.
Er ließ sich fallen.
Der Aufprall schleuderte seine Knie hoch, doch er stürzte nicht ab. Nach einer langen Sekunde des Balancierens holte Lew tief Luft.
Er wußte nicht, auf welchem Gebäude er sich befand;, aber er war auf keinen Fall verlassen. Trotz der Feierabendstunde um neun Uhr abends waren alle Fenster erleuchtet. Er versuchte, sich in einen toten Winkel zu drücken, während er durch die Scheibe spähte.
Das Fenster gehörte zu einem Büro. Das Büro war leer.
Er brauchte etwas, das er sich um die Hand wickeln konnte, wenn er die Scheibe einschlagen wollte. Er trug nur Socken und einen Gefangenenkittel. Dieser Kittel war so auffällig, daß er ihn ebensogut ausziehen konnte. Er streifte ihn über den Kopf, wickelte ihn um seine rechte Hand und schlug gegen die Scheibe.
Fast hätte er sich bei diesem Schlag die Hand gebrochen.
Nun – man hatte ihm im Gefängnis wenigstens seine Uhr und seinen Brillantring gelassen. Er ritzte einen Kreis in die Scheibe und schlug noch einmal zu – diesmal mit der Linken. Es mußte Glas sein. Falls nicht, war er verloren.
Die Scheibe gab nach. Das heißt, das kreisrunde Stück, das er mit dem Brillanten vorgeschnitten hatte.
Er mußte den Vorgang sechsmal wiederholen, ehe das Loch groß genug zum Durchschlüpfen war.
Lächelnd trat er in das Büro, den Kittel noch in der linken Hand. Jetzt brauchte er nur einen Lift. Die Polizei würde ihn sofort in seinem Gefangenenkittel auf der Straße verhaften. Doch wenn er den Kittel hier versteckte, konnte ihm nicht viel passieren. Wer verdächtigte schon einen lizenzierten Nudisten?
Natürlich besaß er gar keine Lizenz. Auch kein Schultertäschchen, in dem er die Lizenz tragen mußte.
Und er war unrasiert.
Das war schlimm. So einen haarigen Nudisten wie ihn hatte es noch nie gegeben. Er hatte keine Stoppeln, sondern einen ausgewachsenen Bart. Wo konnte er sich einen Rasierapparat beschaffen?
Er sah in den Schubladen der Schreibtische nach. Viele Geschäftsleute hatten einen Ersatzapparat im Büro. Als er eine Schublade durchsucht hatte, brach er das Unternehmen ab. Nicht, weil er einen Apparat gefunden hatte – er wußte jetzt, wo er war.
Die Papiere im Schreibtisch klärten ihn darüber auf.
Ein Hospital.
Er hielt sich immer noch krampfhaft an seinem Kittel fest. Nun warf er ihn in den Papierkorb, bedeckte ihn säuberlich mit Papier und brach regelrecht über dem Stuhl hinter dem Schreibtisch zusammen.
Ein Hospital. Ausgerechnet er mußte sich in ein Hospital flüchten. Und ausgerechnet dieses Hospital. Man hatte es ja nicht zufällig neben das Bezirksgericht von Topeka hingestellt.
Doch er wollte sich ja gar nicht hierherflüchten. Das Hospital hatte sich ihm aufgedrängt. Hatte er ein einziges Mal in seinem Leben wirklich eine Entscheidung selbst getroffen? Freunde hatten sich von ihm Geld geborgt, um es nicht mehr zurückzugeben. Andere Männer hatten sich seine Freundinnen ausgeborgt (mit gleichem Ergebnis). Er war bei Beförderungen immer übergangen worden, weil er sein Licht stets unter den Scheffel stellte. Shirley hatte gedroht, sich umzubringen, wenn er sie nicht heiratete, um ihn dann vier Jahre später gegen einen anderen einzutauschen, der sich von der Selbstmorddrohung nicht beeindrucken ließ.
Und diese Pechsträhne wollte auch jetzt, am wahrscheinlichen Ende seines Lebens, nicht enden. Ein alter Organ-Schwarzhändler hatte ihm zur Flucht verholfen. Ein Architekt hatte die Zellstäbe so weit auseinandergezogen, daß ein schmächtiger Mensch hindurchschlüpfen konnte. Ein anderer Architekt hatte ein Gehband zwischen den beiden Gebäuden gespannt. Und jetzt
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