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Geschichten aus der Müllerstraße

Geschichten aus der Müllerstraße

Titel: Geschichten aus der Müllerstraße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: be.bra Verlag , Hinark Husen , Robert Rescue , Frank Sorge , Volker Surmann , Heiko Werning
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vorbei. Kommt aber nicht. Geschichte wiederholt sich nicht. Zumindest nicht in einer Nacht.

Heiko Werning
Müllerstraßenfest
    Weil es Sonntag ist, und weil es Sommer ist, und weil wir ja jetzt eine richtige Familie sind, wollen meine Freundin und ich mit unserem einjährigen Sohn gemeinsam eine Unternehmung machen. Denn so ist es Brauch, und so soll es sein. Da erweist es sich für unseren Sommersonntagsfamilienausflug als ausgesprochen praktisch, dass direkt vor unserer Haustür das Müllerstraßenfest tobt. Meine Freundin zweifelt kurz, ob sie noch einmal in ihre Wohnung nach oben soll, weil sie nur etwas schäbige Sandalen anhat.
    »Aber wir wollen doch aufs Müllerstraßenfest!«, sage ich, und beide lachen wir ausgelassen.
    Also setzen wir den Kleinen in den Kinderwagen und rollen los. Die Plakate an den Bushaltestellen und Litfaßsäulen mit ihren
H&M
- und
Calvin Klein
-Models bilden einen absurden Kontrast zu den Menschen, die über die abgesperrte Müllerstraße rumpeln, humpeln und torkeln. So ähnlich müssen Werbespots für die neue
Ulla-Popken
-Kollektion in Somalia wirken.
    Aber niemand hier stört sich an dem offenkundigen Missverhältnis. Auf dem Müllerstraßenfest laufen alle Menschen so herum, wie Gott oder Allah,
Schultheiss
oder
Jägermeister
, die Arbeitslosigkeit oder der prügelnde Ehemann sie zugerichtet haben. Hier gibt es keine falsche Scham. Wie gut, dass ich unlängst mit dem Fuß umgeknickt bin und daher noch etwas hinke, und dass ich ein etwas zu enges T-Shirt erwischt habe, das meinen mächtigen Leib angemessen in Szene setzt, so falle ich hier nicht unangenehm auf. Denn nichts läge dem Müllerstraßenfestbesucher ferner, als seine körperlichen Makel zu verbergen. Nein, hier wird bauchfrei getragen von Frauen, für die das ganze
Vanity-Fair
-Pack vermutlich die Burka herbeisehnen würde. Hier werden Nylonstoffe über die Gliedmaßen gezwungen, die jede Krampfader ebenso zur Geltung kommen lassen wie die Auswahl des Slips und den Schnitt der Schamhaarrasur – wozu betreibt man den Aufwand denn schließlich?
    Wir schieben uns zwischen den Ständen hindurch, die sich in wenige Kategorien einteilen lassen. Die meisten bieten Textilien aller Art an, vom Tanga bis zur Hose, von der Bluse bis zur Handtasche, und es gibt alles in drei Sorten, nämlich: 1 €, 3 € und 5 €. Bergeweise Wäsche, hier könnte der ganze Wedding sich einkleiden, ach was, ich Idiot: Hier kleidet der ganze Wedding sich ein. Natürlich. Hier reichen auch die Witwenrente und das Hartz-IV-Budget für eine neue Komplettausstattung, und die Menschen machen reichlich Gebrauch davon, quer durch alle Altersklassen und Nationalitäten.
    Die meisten der Textilanbieter locken mit den Werbeschildern »Sonderverkauf«, »Aktionspreise« oder »Fabrikverkauf«. Ein arabischer Händler preist seine 3-€-Hosen und 1-€-Tops als »Restposten aus Paris« an und verhandelt zeitgleich über Mengenrabatte mit einer Weddinger Oma am Rollwägelchen und einer Schwarzafrikanerin mit autoreifengroßen Ohrringen. Einige Anbieter haben sich spezialisiert, z. B. auf Bedarf für Nervensägen mit »südländischem Aussehen«. Hier also haben die den ganzen Kram her, denke ich fasziniert, als ich meinen Blick über die Auslagen streifen lasse, mit den Goldkettchen, den silbernen Gürtelschnallen und den weißen oder roséfarbenen Stoffhosen und Hemden, die, wie Kollege Hinark Husen treffend bemerkte, würden sie von deutschen Männern getragen, auf hundert Meter Entfernung klar signalisierten: »Achtung! Ich bin schwul!«
    Ob es da manchmal zu kulturellen Missverständnissen kommt? Noch weitere Stände sorgen für eine kurzfristige ethnische oder kulturelle Aufteilung des Publikums: Es gibt solche mit Orientkitsch für türkisch-arabische Einkäufer, mit blauen Stoffreliefen, auf denen schwer verschnörkelte goldene Boote zwischen noch schwerer verschnörkelten goldenen Bilderrahmen schippern, ebenso wie ausladend verzierte Teekannen samt Gläsern in Silberblattgestellen. Es gibt Stände mit Western-Krempel aller Art, mit Lederfransengürteln und Lederfransenjacken und Lederfransenhüten, also alles für den Weddinger Ureinwohner, gleich daneben Holzprodukte mit nativem Humor, etwa Tafeln zum Aufhängen mit Sprüchen wie »Wer sich über Schwiegermutter beschwert, muss sie mitnehmen«. Holzkleiderbügeln mit Aufschriften wie: »50 Jahre – kein Grund zum Aufhängen« und mächtigen Flaschenöffnern mit motivierenden Inschriften à la:

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