Geschichten von der Bibel
Vergleich zu seinen Brüdern. Hartholz, um genau zu sein. Jabal und Jubal waren es gewohnt, sich unter Menschen zu bewegen, sie verstanden es, elegant zu argumentieren, sie waren smart und aufgeschlossen und glatt und dennoch unterhaltsam, geistreich, charmant und so weiter. Feine Gesellschaft, Abteilung Kultur. Noah war ein stiller, in sich gekehrter, schwerblütiger Mann. Er wirkte ungepflegt. Manchmal sagte er Sätze, die kamen ihm einfach so aus dem Mund, keiner hatte ihn danach gefragt.
Zum Beispiel: »Das Gegenteil von Lüge ist nicht Wahrheit, sondern Überzeugung.«
Dann kam es vor, daß einer mitten in einem Gespräch zu Jabal und Jubal sagte: »Ah, ja, da habe ich neulich euren Bruder getroffen, der sagte …«
Dann sahen sich Jabal und Jubal an und lächelten, und es war ein stolzes Lächeln.
Und sie sagten: »Ja, ja, man unterschätzt ihn leicht. Noah hat einen breiten Kopf. Er ist der Hellste von uns.«
Sie sagten das freilich mit einem feinen, ironischen Lächeln. Und derjenige, der mit Jabal und Jubal zusammensaß, war womöglich ein Schmeichler und wollte etwas von den beiden.
Und er sagte: »Na, na, da gibt es doch wohl noch zwei Hellere in der Familie.«
Und Jabal und Jubal sagten, und diesmal ziemlich ernst: »Nur daß man sich da nicht täuscht!«
Ein Bauer war Noah, einer, der selten in die Stadt kam. Er war verheiratet mit Naama, der Tochter des Henoch, also seiner Cousine. Sie war eine unglaublich starke Frau. Sie war in seelischer Hinsicht stark, in geistiger Hinsicht stark. Und außerdem konnte sie einen Baumstamm auf einer Seite hochstemmen, während er auf der anderen Seite an einen Querbalken geschraubt wurde … Naama hatte drei Söhne geboren: Ham, Sem und Jaffet.
Eines Tages ging Noah, was selten geschah, in die Stadt, und er besuchte seine beiden Brüder. Er betrat ihr Büro, setzte sich auf den Besuchersessel, klemmte die Unterarme zwischen seine Knie, starrte auf den Boden. Jabal und Jubal warteten, nachdem sie ihn begrüßt hatten.
Es war schon vorgekommen, daß Noah stumm dagesessen und dann aufgestanden und gegangen war, und Jabal und Jubal hatten sich Vorwürfe gemacht, weil sie nicht auf ihn eingegangen waren, weil sie ihn nicht gefragt hatten, was denn sein Problem sei.
Darum fragten sie ihn diesmal: »Noah! Was ist los, was können wir für dich tun? Können wir überhaupt etwas für dich tun?«
Noah nickte. Dann stammelte er. Es war eigentlich weniger ein Stammeln als vielmehr ein Murmeln auf Ü und A.
»Laß dir Zeit«, sagte Jubal.
»Wir sind für dich da«, sagte Jabal.
Schließlich brachte es Noah heraus.
Er erzählte folgende Geschichte: »Gott hat einen Engel zu mir geschickt«, sagte er. »Und zwar seinen Erzengel Uriel. Dieser Uriel richtete mir aus, ich soll ein Schiff bauen. Aber ich kann das nicht. Und ich bilde mir auch nicht ein, daß ich so etwas kann. Woher soll ich das können, bitte!«
Jubal und Jabal hörten ihrem Bruder zu, sie wußten, sie mußten ihm Zeit lassen, er tat sich schwer, seine Gedanken zu formulieren.
»Ein Engel, sagst du?«
»Mhm.«
»Und woher hast du gewußt, daß es ein Engel ist?«
»Er hat es gesagt.«
»Was hat er gesagt? Genau.«
»Ich bin ein Engel, Gott hat mich zu dir gesandt. Das hat er gesagt.«
Weder Jubal noch Jabal zweifelten daran, daß ihnen Noah die Wahrheit sagte. Und auch wenn Noah selbst immer wieder behauptete, das Gegenteil von Lüge sei nicht Wahrheit, sondern Überzeugung, taten sie seine Geschichte dennoch nicht damit ab, daß sie sich sagten, Noah sei lediglich von etwas Falschem überzeugt. Sie nahmen ihren Bruder ernst. Aber sie nahmen die Wahrheit nicht ernst.
»Ein Schiff sollst du also bauen?«
»Eine Arche. Ja.«
»Wir haben bisher noch nie etwas von einem Erzengel mit dem Namen Uriel gehört«, sagten Jabal und Jubal.
»Ich auch noch nicht«, sagte Noah. »Aber er war’s.«
Zum ersten Mal hob er die Augen und sah seine Brüder an. Er war verzweifelt. Sie konnten es in seinen Augen lesen.
»Erzähl weiter«, sagte Jabal. »Warum sollst du so eine Arche bauen?«
»Uriel hat gesagt, Gott will die Menschheit bestrafen.«
Eine lange Pause entstand. Noah blickte von einem zum anderen.
Dann sagte er: »Um genau zu sein: Gott will die Menschheit ausrotten.«
»Das hat der Engel gesagt?«
»Mhm.«
»Und warum will er das?«
»Es tue ihm leid, die Menschen überhaupt gemacht zu haben. Ich zitiere den Engel. Sie treiben Unzucht, die Menschen, sie opfern nicht, sie beten nicht, sie
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