Geschlossene Gesellschaft
Fröhlichkeit umschlug. Als ich mich spät am Abend am Tisch umsah und meine Gefährten betrachtete, schien ich plötzlich weit von ihnen entfernt zu sein. Ich hatte Gewissensbisse, weil das Buch über Max Algernon Wingates Leben und Tod nun zugeschlagen worden war. Ich entschuldigte mich und ging auf die Terrasse hinaus, um eine Zigarette zu rauchen. Dabei beobachtete ich die Gischt der Adria, die aus der endlosen Nacht auf mich zurollte, und fragte mich, was ich hätte tun können - oder nicht tun sollen -, um dieses bittere Ende unserer zwanzigjährigen Freundschaft abzuwenden.
»Du denkst an Max, nicht wahr ?« fragte Diana, die leise hinter mir hergekommen war, ihren Arm unter meinen schlang und den Kopf an meine Schulter legte. »Ich konnte es an deinem Gesicht sehen, als du gegangen bist.«
»Ich kann nicht anders.«
»Das will ich auch gar nicht. Wir werden ihn nie vergessen. Das werden wir nicht einmal versuchen.«
»Weißt du, nichts davon war seine Schuld.«
»Du glaubst immer noch, dass jemand anders Papa umgebracht hat?«
»Ich weiß es nicht genau. Vermutlich werde ich es auch nie erfahren.« Ich merkte, dass sie auf ihrem Arm Gänsehaut bekam. »Wollen wir hineingehen?«
»Gleich. Das Meer ist so... bezaubernd.«
»Längst nicht so bezaubernd wie du.« Ich küsste sie und sah, wie sich die Lichter des Speisesaals in ihren Augen spiegelten. »Freust du dich, nach Hause zu kommen?«
»Ich glaube schon.«
»Du glaubst es nur?«
»Was bedeutet das für uns, Guy - wenn wir nach England zurückfahren? Werden wir zusammenbleiben?«
In diesem Moment hätte ich es ihr sagen sollen. Ich hätte ihr mein Geheimnis enthüllen sollen, solange ich noch den Mut dazu hatte. Aber ich wusste, dass ich es noch ein kleines bisschen länger hinauszögern konnte. Also küsste ich sie nur und flüsterte ihr ein »Selbstverständlich« ins Ohr. Am nächsten Tag holten wir unsere Reisepässe aus der Quästur ab, nahmen das Boot nach San Michele, wo wir Blumen auf Max' Grab niederlegten und uns schweigend von ihm verabschiedeten. Wir würden Venedig bald verlassen, doch Max würde für immer hier bleiben. Wir trugen deswegen keine Schuld, das hatte das Gericht verkündet. Und doch musste er bleiben, während wir gehen durften.
Wir hatten Plätze im Orientexpress gebucht, der Venedig Mittwochnachmittag verlassen würde. Es war der 28. August, und die Zeit wurde knapp. Nicht, dass es beim Frühstück in der Villa Primavera Spannungen gegeben hätte. Diana und ich wahrten den Anstand, indem wir getrennt aus unseren Räumen herunterkamen, was aber zweifellos niemanden täuschte. Ich saß also ungefähr zehn Minuten allein mit Vita da, bevor Diana uns Gesellschaft leistete. Quincy machte bereits seinen üblichen Morgenspaziergang am Strand.
»Ich freue mich, dass ich mich in Ruhe mit Ihnen unterhalten kann«, begrüßte mich Vita. »Es ist allerhöchste Zeit zu fragen, welche Absichten Sie mit meiner Nichte haben.«
Ich setzte meine Tasse ab und lächelte sie an. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das weiß.«
»Das sollten Sie aber. Sie liebt Sie, Guy, das ist offensichtlich für mich, auch wenn Ihnen das nicht klar sein mag. Also, was haben Sie vor?«
»So einfach ist das nicht. Verstehen Sie...« Ich zögerte. Wieder hatte ich die Möglichkeit zur Beichte. Und wieder ließ ich sie verstreichen.
»Nun, hallo, ihr beiden!« rief Quincy, der unvermutet hereinkam. Er keuchte noch leicht von seinem Spaziergang. »Ein wunderbarer Morgen, findet ihr nicht?«
»Doch«, erwiderten wir im Chor. »Absolut.«
»Draußen habe ich den Postboten getroffen. Er hat mir einen Brief für dich gegeben, Vita. Wenigstens nehme ich an, dass er für dich ist.« »Wie meinst du das?«
»Sieh selbst.« Er legte den Umschlag vor sie hin. Die Adresse war mit Maschine getippt. Miss Charnwood. Kein Vorname.
»Hier im Ort aufgegeben«, meinte Vita. »Wie eigenartig.«
»Willst du ihn nicht aufmachen?«
»Vielleicht ist er für Diana.«
»Vielleicht auch nicht.«
»Sicher, aber...«
In diesem Moment erschien Diana lächelnd neben Quincy. »Gibt es irgendetwas Aufregendes?«
»Einen Brief für Miss Charnwood«, erklärte ich. »Die Frage ist nur: für welche?«
»Lass mich sehen.« Vita reichte ihr den Umschlag. »Tatsächlich, er könnte für jede von uns sein.«
»Dann öffne ihn doch, Liebes«, schlug Vita vor. »Befreie uns aus unserer Notlage.«
»Gern.« Sie öffnete den Brief mit einem Messer, nahm ein Blatt Papier heraus und
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